Bilal arbeitet gerade im Café, als sein Handy klingelt. Seine Mutter. Es sei Post von der Einwanderungsbehörde gekommen: Sie, sein Vater und seine ältere Schwester sollen ausreisen – nach Syrien. Zurück in das Land, aus dem Bilals Familie nach Dänemark geflüchtet war, zurück ins Kriegsgebiet.
Mehrere Hundert syrische Geflüchtete sollen Dänemark verlassen
Dänemark ist das erste Land in der Europäischen Union, das wieder Abschiebungen nach Syrien durchführen will, die wegen der Sicherheitslage im Land ausgesetzt waren. Rings um die syrische Hauptstadt Damaskus gebe es keine Kämpfe mehr, argumentiert die dänische Regierung. Damit sei die Region sicher. Schon 2019 und 2020 sprachen dänische Behörden einzelnen Syrer:innen aus dem Großraum Damaskus ihre Aufenthaltsgenehmigungen ab oder verlängerten sie nicht. Heute sind mehrere Hundert syrische Geflüchtete betroffen. Viele von ihnen kämpfen nun darum, dass sie und ihre Familien in Dänemark bleiben dürfen.
Der Arabische Frühling war eine Welle von Protesten und Revolutionen in vielen Ländern Nordafrikas und des Nahen Ostens. Dabei protestierten die Menschen vor zehn Jahren auch in Syrien für Freiheit, Gerechtigkeit und das Ende der Willkürherrschaft von Diktator Baschar al-Assad. Der antwortete mit Gewalt. Bald brach ein Bürgerkrieg aus, in den bis heute Staaten wie Russland, Iran, die Türkei oder Saudi-Arabien eingreifen. Mehr zum Thema seht ihr im Atlas des Arabischen Frühlings
Auch Bilal lebte vor seiner Flucht mit seinen Eltern und drei Geschwistern in der Nähe von Damaskus. Er war gerade zehn, als sich 2011 Tausende Syrer:innen im sogenannten „Arabischen Frühling“ gegen das Regime Baschar al-Assads erhoben. Der Krieg hält bis heute an und kostete laut Schätzungen eine halbe Million Menschen das Leben. Mehr als zwölf Millionen Syrer:innen sind auf der Flucht, der größte Teil innerhalb Syriens und in benachbarten Staaten. Etwa 35.000 Syrer:innen kamen nach Dänemark, meist über die gefährlichen Mittelmeer- und Balkanrouten. Die Bomben, die Leichenteile, die Angst – all das wollte Bilal vergessen, als er in Dänemark ankam.
„Wir haben alles hinter uns gelassen“, sagt Bilal am Telefon. Die Flucht nach Europa trat er vor fünf Jahren ohne seine Familie an: Sein Vater war vorausgegangen und holte die anderen nach. Heute lebt Bilal mit seinen Eltern und seinen Geschwistern in Randers, einer beschaulichen Stadt in Jütland. In Sicherheit, aber nicht unbeschwert: „Der Krieg hat uns hart gemacht“, sagt Bilal. Zu viel sei passiert, ein neues Leben aufzubauen koste Kraft.
Gerade versucht Bilal seinen Schulabschluss zu machen. Das mit dem Dänisch werde immer besser, aber viel Zeit zum Lernen habe er nicht. Um seine Familie zu unterstützen, fährt er mit dem Fahrrad Essen aus, arbeitet bei einer Zeitarbeitsfirma und im Café. Anders als Schwester, Mutter und Vater haben Bilal und seine Brüder politisches Asyl erhalten, weil ihnen als jungen Männern in Syrien Militärdienst droht. Die anderen sollen gehen. „Als ich davon erfahren habe, ließ ich alles stehen und liegen und bin nach Kopenhagen gefahren“, sagt Bilal.
Dänemarks linksnationale Politik wird immer härter
Seit die Entscheidung der Behörden im Frühling 2021 auch international bekannt wurde, rufen betroffene Syrer:innen und ihre Unterstützer:innen in verschiedenen dänischen Städten zu Demonstrationen auf. Mitte Mai errichteten sie ein Protestcamp vor dem Parlament in Kopenhagen, manche gingen sogar in den Hungerstreik. Bilal war nach einigen Tagen vor dem Parlament frustriert: Die Presse berichtete nur sporadisch. Und Mette Frederiksen, die dänische Ministerpräsidentin, habe absichtlich einen Nebenausgang des Parlaments benutzt, um den Fragen der Protestierenden zu entgehen.
„Kennen die Dänen Caesar nicht?“, fragt Bilal. Caesar ist der Deckname eines Militärfotografen, der Tausende Bilder von misshandelten und getöteten Menschen aus syrischen Gefängnissen ins Ausland schmuggelte und anschließend nach Europa floh. Bilal fürchtet, dass seiner Familie das Schicksal von Caesars Motiven droht, wenn sie nach Syrien zurückkehren. Laut dem Syrischen Netzwerk für Menschenrechte sind allein 2019 mehr als 600 Menschen nach ihrer Rückkehr in Syrien verschwunden, 15 starben durch Folter.
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Diese Zahlen scheinen die Regierung in Kopenhagen nicht umzustimmen. Dänemark versucht schon seit Beginn der 2000er-Jahre, mit einer strengen Asyl- und Integrationspolitik die außereuropäische Einwanderung ins Land zu verringern – etwa durch die sogenannten „Ghetto“-Gesetze in migrantisch geprägten Vierteln.
Im Januar erklärte Ministerpräsidentin Frederiksen, dass sie die Anzahl neuer Asylanträge auf „null“ reduzieren wolle. Und kürzlich verabschiedete das Parlament ein Gesetz, aufgrund dessen Dänemark Asylsuchende ohne Verfahren in Länder außerhalb der Europäischen Union ausfliegen darf. Bis über ihren Asylantrag entschieden ist, sollen die Menschen dort in sogenannten Asylzentren ausharren, was von der Europäischen Union und der UNO kritisiert wurde. Einzelnen afrikanischen Staaten hat Dänemark bereits Geld und Unterstützung angeboten, um solche Asylzentren zu bauen. Bisher lässt sich kein Land darauf ein.
Wie in anderen Ländern Europas sind rechtspopulistische Parteien in den vergangenen Jahren auch in Dänemark stärker geworden. Sie haben die politische Debatte verändert. Bei der letzten Parlamentswahl 2019 traten die dänischen Sozialdemokrat:innen deswegen mit einem gemischten Programm aus rechten und linken Positionen an: höhere Steuern für Reiche, mehr Geld für Bildung, aber auch härtere Einwanderungs- und Asylpolitik. Auch das könnte dazu beigetragen haben, dass die rechtspopulistische Dänische Volkspartei zwölf Prozentpunkte verlor.
Dieser Strategie folgt womöglich auch die Entscheidung, die Region um Damaskus als sicher einzustufen und damit Abschiebungen theoretisch wieder möglich zu machen. Praktische Folgen hat das bisher noch nicht, denn abschieben kann nur, wer diplomatische Beziehungen zum Herkunftsland unterhält. Das ist zwischen Dänemark und dem Assad-Regime nicht der Fall. Die dänische Botschaft in Damaskus ist seit 2012 geschlossen. Genauso die deutsche Botschaft. Eine Möglichkeit, „Straftäter“ nach Syrien abzuschieben, wie es immer wieder Politiker:innen in Deutschland fordern, besteht daher nicht. Es gibt aber eine andere Möglichkeit: die Rückkehrförderung. Migrant:innen bekommen Geld, wenn sie das Land freiwillig wieder verlassen. Solche Programme existieren sowohl in Deutschland als auch in Dänemark. Grundsätzlich argumentieren viele Politiker:innen, dass die freiwillige Rückkehr die bessere Lösung ist. Oftmals kostet sie den Staat sogar weniger als eine Abschiebung. Aber wenn Syrer:innen in Dänemark nun ohne Aufenthalt dastehen, kein anderes Land finden, das sie aufnimmt, oder das Geld zur Rückkehr nicht annehmen, bleibt denen, die nicht zurückkehren wollen, nur die Flucht in den Untergrund. Oder das Leben in einem Abschiebelager. Dort dürfen Menschen weder arbeiten noch studieren – ein Dämmerzustand auf unbestimmte Zeit.
Bilals Familienmitglieder haben inzwischen Einspruch gegen das Auslaufen ihrer Aufenthaltsgenehmigungen eingelegt. In den nächsten Tagen soll eine Antwort mit der Post kommen. Das Warten zehrt an der Familie.
Diese Situation soll möglichst vielen Syrer:innen erspart bleiben, sagt Jawaher. Die Kurdin ist 2015 aus dem nordsyrischen al-Hasaka nach Dänemark geflüchtet. Die 22-Jährige lebt heute nahe Kopenhagen, spricht akzentfrei Dänisch und engagiert sich seit vier Jahren bei einer Organisation, die sich für die Integration von Migrant:innen in Dänemark einsetzt. Als immer mehr syrische Familien Post von der Einwanderungsbehörde bekamen, wurde dieses freiwillige Engagement fast zum Vollzeitjob für Jawaher. „Ich versuche, die Familien zu beraten, und besorge ihnen die Nummer von Anwälten“, sagt sie. Jawaher appelliert aber auch an die dänische Öffentlichkeit. Unter dem Label „Die Abgelehnten“ erzählt Jawaher auf Facebook und Instagram von den Schicksalen der Syrer:innen. „Für mich ist dieser Aktivismus nur menschlich“, sagt Jawaher. Aber ihre Mutter mache sich schon Sorgen, weil sie sich dabei immer wieder gegen das Assad-Regime ausspricht. Und gerade wird auch Jawahers Aufenthaltsstatus von den Behörden geprüft: Es gibt im dänischen Parlament Überlegungen, weitere Gebiete in Syrien als „sicher“ einzustufen.
Wegen ihres Einsatzes für andere Syrer:innen war Jawaher Anfang Juli zu einem großen Musikfestival in Dänemark eingeladen. „Nach dem Sommer möchte ich mit der Uni beginnen“, sagte sie in ihrer Rede: „Ich bin also in einer Situation, in der ich nicht weiß, ob es die Schultüte oder der Koffer ist, den ich packen werde.“