„Die Zustände in den syrischen Gefängnissen“, sagt Mechthild Wenk-Ansohn, „sind einfach nur noch brutal und grausam. Die Menschen dort werden geschlagen, getreten, vergewaltigt. Es finden Aufhängungen an Armen und Beinen statt, Scheinhinrichtungen werden durchgeführt.“ Ein Patient habe ihr erzählt, dass die Zellen so überfüllt gewesen seien, dass er manchmal über Leichen laufen musste. Wenk-Ansohn, 1952 in Hannover geboren, ist Fachärztin für Allgemeinmedizin, Psychotherapie und spezielle Psychotraumatherapie im Berliner „Behandlungszentrum für Folteropfer“ (bzfo). Seit 20 Jahren therapiert sie dort Opfer von Folter und Kriegsgewalt.

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Verhaftete Oppositionelle 2013 in einem Gefängnis in Damaskus – Sie werden beschuldigt, Autobomben gebaut zu haben ( Foto: Sergey Ponomarev/Laif)

Verhaftete Oppositionelle 2013 in einem Gefängnis in Damaskus – Sie werden beschuldigt, Autobomben gebaut zu haben

( Foto: Sergey Ponomarev/Laif)

In ihrem Büro stehen drei blaue Stühle, ein runder weißer Tisch. Es sind immer drei Stühle: einer für die Therapeutin, einer für den Dolmetscher und einer für den Patienten. Um den Tisch herum liegen Bauklötze, Steine und Stofftiere, mit denen die Flüchtlinge ihre Gefühle symbolisieren sollen. Wenk-Ansohn, ganz in Schwarz gekleidet, brünette Haare, freundliche blaue Augen, greift sich ein Plüschkamel. Zu dem Stofftier gibt es eine Geschichte. Erst am Morgen hat ein Patient aus Syrien es beschützend umklammert. Dabei erklärte er der Therapeutin, dass sie mit ihm viel Geduld haben müsse. „Dieser Mann musste nach einer Bombardierung sehr viele Kinder begraben. Es wird sehr lange dauern, bis er lernt, mit diesen grausamen Bildern leben zu können.“

Seit 2011 herrscht in Syrien ein Bürgerkrieg zwischen den Truppen der Regierung von Präsident Baschar al-Assad und den Kämpfern verschiedener oppositioneller Rebellengruppen. Laut einem Bericht der Vereinten Nationen wurden in diesem Krieg von März 2011 bis April 2014 über 190.000 Menschen getötet. Rund 2,6 Millionen Syrern gelang die Flucht über die Grenze, 6,5 Millionen sind Flüchtlinge innerhalb des Landes. Nach Angaben des Bundesinnenministeriums leben zurzeit über 80.000 syrische Flüchtlinge in Deutschland.

Die Kriegsflüchtlinge aus Syrien, sagt Wenk-Ansohn, leiden häufig unter posttraumatischen Belastungsstörungen. Alltagssituationen können bei ihnen verstörende Erinnerungen hervorrufen.

Einer hört ein Flugzeug, das in Tegel landet, und bekommt Panik, will sich verstecken. Ein anderer erlebt Gewalt in der U-Bahn oder S-Bahn, handelt inadäquat, schreit und rennt weg, anstatt sich ruhig zu verhalten. Manchmal sind es auch die Schiebetüren eines Polizeiautos, die überall einen ähnlichen Klang haben, die Kriegsflüchtlinge in Panik geraten lassen. Das sind Flashbacks, erklärt die Psychotherapeutin, die durch Situationen von damals ausgelöst wurden. Die Menschen verlieren in diesen Momenten ihren Realitätssinn, können nicht mehr unterscheiden, ob sie noch in Syrien oder in Deutschland sind. „In der Therapie“, sagt Wenk-Ansohn, „laufen wir mit ihnen gemeinsam an Polizeiautos vorbei. Man muss das richtig mit ihnen trainieren, sie müssen wieder lernen, dass ein Polizist keine Gefahr für sie darstellt.“

Oft erzählen ihr die Patienten, die im Gefängnis waren und gefoltert wurden, dass die Folterungen und Schreie der Mitgefangenen ihnen am meisten zugesetzt haben. Hier vermischen sich Gefühle der Ohnmacht mit denen der Schuld, selbst überlebt zu haben. Ein Mann habe ihr erzählt, dass er im Gefängnis die Schreie einer Frau, die er kannte, gehört habe. Diese Frau sei im Gefängnis gestorben. „Jetzt hört er diesen Schrei in seinen Albträumen, schreit selbst und wacht jede Nacht davon auf.“

„Die Angst“, sagt die Psychotherapeutin, „steckt tief in ihnen drin. Sie brauchen Zeit, um Vertrauen zu gewinnen, und wir geben ihnen diese Zeit. In vielen Einzelgesprächen lernen sie, das Erlebte in Worte zu fassen und das Geschehene psychisch zu verarbeiten. Ziel der Behandlung ist es, das Leben der traumatisierten Menschen wieder lebenswert zu machen. Und den allermeisten gelingt dies auch. Im Durchschnitt dauert eine Therapie eineinhalb Jahre.“ Im vergangenen Jahr konnten insgesamt 450 Kriegs- und Folteropfer aus nahezu 40 Ländern im bzfo behandelt werden, momentan sind 60 syrische Flüchtlinge in Therapie. Je nach Bedarf, sagt Wenk-Ansohn, biete das bzfo verschiedene einzel- oder gruppentherapeutische Behandlungsmethoden wie Psychotherapie, Verhaltenstherapie oder systemische Familientherapie an. Die Behandlung erfolge je nach Schwere der psychischen Krankheit ambulant oder teilstationär. Gleichzeitig beraten Sozialarbeiter die Patienten in asyl- und ausländerrechtlichen Fragen.

Diese Beratung, erklärt sie, sei wegen des unsicheren Bleiberechts vieler Flüchtlinge in Deutschland enorm wichtig. Die syrischen Flüchtlinge leiden unter der erlebten Folter, der ungewissen Situation von Familienangehörigen in der Heimat und wurden darüber hinaus auch noch auf der Flucht traumatisiert. Manch einer habe auf einem Schiff sein Kind verloren. Andere seien in den Aufnahmelagern von italienischen Grenzbeamten geschlagen worden. Manchmal wurden auch Elektroschocker eingesetzt. Es gebe Hinweise auf systematische Gewaltexzesse an den EU -Außengrenzen. In einem Fall, der ihr bekannt sei, wurde ein Vater von italienischen Grenzbeamten vor den Augen seiner Kinder misshandelt. Ein Patient von ihr sage immer wieder: „Italien ist eine Schande für Europa.“

Wenk-Ansohn ist aufgebracht, zur Beruhigung nimmt sie einen Stein in die Hand, der ansonsten die Flüchtlinge besänftigen soll. Viele der Flüchtlinge, sagt sie, hätten Angst davor, wieder nach Italien oder in ein anderes Land an den Rändern der EU abgeschoben zu werden. Aufgrund der europäischen „Dublin-Verordnung“ dürfen sie nur in einem Land einen Asylantrag stellen; grundsätzlich im Land ihrer Ersteinreise. In den meisten europäischen Einreiseländern seien die humanitären und sozialen Standards jedoch eine Katastrophe. Zudem wurden sie dort schlecht behandelt, mitunter geschlagen, bekämen kaum staatliche Hilfe und würden oft als Obdachlose auf der Straße landen. Diese Menschen aus Syrien, sagt Wenk-Ansohn, hatten noch die Kraft für die Flucht. Sie kamen in der Hoffnung, in Sicherheit leben zu dürfen. Jetzt hätten sie wieder Angst: Angst vor der Abschiebung, Angst vor einer ungewissen Zukunft. Ihr psychischer Zustand verschlechtere sich dadurch zusehends, Einweisungen wegen Suizidgefahr seien keine Seltenheit. „Sie haben einfach keine Kraft mehr, können nicht mehr weiterkämpfen, sind am Ende. So darf man mit diesen Menschen doch nicht umgehen. Es sollte im Interesse von uns allen sein, diese Menschen so zu unterstützen, dass sie irgendwann wieder ein würdiges Leben führen können.“

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„Die Menschen dort werden geschlagen, getreten, vergewaltigt. Es finden Aufhängungen an Armen und Beinen statt, Scheinhinrichtungen werden durchgeführt“ ( Foto: Sergey Ponomarev/Laif)

„Die Menschen dort werden geschlagen, getreten, vergewaltigt. Es finden Aufhängungen an Armen und Beinen statt, Scheinhinrichtungen werden durchgeführt“

( Foto: Sergey Ponomarev/Laif)

Und wie verarbeitet sie all das Leid, das sie tagaus, tagein von ihren Patienten zu hören bekommt, persönlich? Früher hätten sie ihre zwei Kinder abends oft gefragt: „Mama, wo bist du denn?“ Sie habe völlig abwesend gewirkt. „Es hat sehr lange gedauert, bis ich gelernt habe, die Geschichten der Flüchtlinge nicht mehr mit mir nach Hause zu tragen.“

Was sie momentan eher verfolge, sei die Hilflosigkeit der Flüchtlinge. Sie legt den Stein wieder auf den Tisch, geht zum Fenster und zeigt auf das gegenüberliegende Gebäude: „Schauen Sie, genau vor meinem Büro liegt die Zentrale Aufnahmestelle des Landes Berlin für Flüchtlinge. Vor dem Eingang bewachen einige muskulöse Security -Leute die wartenden Flüchtlinge. Jetzt haben sie große weiße Zelte aufgebaut, damit es die Flüchtlinge, während sie stundenlang auf ihren Einlass warten, nicht mehr ganz so kalt haben. Aber manchmal werden diese Menschen auch einfach wieder weggeschickt. Sie bekommen keinen Termin mehr und müssen selbst sehen, wo sie die Nacht über bleiben.“ Dieses Ausgeliefertsein und diese Hilflosigkeit täglich so hautnah mitzubekommen, sagt Wenk-Ansohn, mache sie mitunter einfach nur wütend und traurig. Aber jetzt ist es Freitagabend. Das Wochenende steht vor der Tür. Sie löscht die Lichter, sperrt das Büro ab. Sie wird sich erholen, Kraft tanken, um am Montagmorgen wieder all den Menschen helfen zu können, die im Krieg oder auf der Flucht so unermessliches Leid erleben mussten.

Alem Grabovac lebt als freier Autor und Journalist in Berlin. Er hat kein Verständnis für demonstrierende Menschen vor Flüchtlingsheimen. Die „Angst vor Überfremdung“ ist für ihn das Unwort des Jahres.