Das Heft – Nr. 69

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R wie Rücksicht

Vor dem Gesetz sind alle gleich. Das war nicht immer so.

Immer ist da einer, der was will – sei es in der steinzeitlichen Steppe ein Fetzen vom gemeinschaftlich erlegten Mammut, sei es in Hamburg ein Platz in der überfüllten U-Bahn. Respekt wird erkämpft, gewährt, eingeräumt oder aber verwehrt.

In der Natur des Menschen liegt der Wunsch, von anderen Menschen als Gleicher anerkannt zu werden. Er will sich in jeder Gemeinschaft – von der Familie bis zum Imperium – aufgehoben fühlen und gemäß seinen Anlagen entfalten. Die Grundlage dafür ist in vielen Ländern die Verfassung, auch in Deutschland.

Um Respekt und Anerkennung wird seit jeher gerungen. Denn ohne eine zumindest rudimentäre Anerkennung des anderen ist menschliche Gesellschaft nicht möglich. Anerkennung ist die Voraussetzung für Respekt. Respekt wurzelt wortgeschichtlich im respectus, das als „Zurückblicken“ schon die „Rücksicht“ enthält und immer ein Innehalten ist. Und damit zwangsläufig ein zumindest zeitweiliges Absehen von eigenen Interessen. Davon redet der Philosoph Arthur Schopenhauer in seinem Gleichnis von den Stachelschweinen, die „an einem kalten Wintertage recht nah“ zusammenrücken, um nicht zu erfrieren. Bei zu großer Nähe aber stören die Stacheln, bei zu großer Entfernung stört die Kälte, „so daß sie zwischen beiden Leiden“ pendeln: „Die mittlere Entfernung, die sie endlich herausfinden, und bei welcher ein Beisammensein bestehen kann, ist die Höflichkeit und feine Sitte.“ Knapper drückt es in „Dirty Dancing“ Johnny aus, während er Baby die ersten Schritte beibringt: „Das ist mein Tanzbereich. Und das ist dein Tanzbereich. Du kommst nicht in meinen, ich komme nicht in deinen.“

In Europa haben sich viele Menschen mit der Frage befasst, wie dieser Tanz am besten zu organisieren ist. Zum Beispiel, wenn es um den Respekt vor dem Einzelnen und seinen Schutz vor der Willkür der Herrscher geht. Europa war früh ein Labor für den Ausgleich der Interessen. Hier betritt erstmals das moderne Bürgertum – mit der Renaissance sogar das „Individuum“ – die Bühne der Geschichte. Der Philosoph Axel Honneth nennt sein Werk zur „Anerkennung“ deshalb auch eine „europäische Ideengeschichte“. Als deren Ursprung gilt die „Petition of Right“, mit der das englische Parlament 1628 ein Ende königlicher Willkür forderte. Wirklich von Dauer und internationaler Wirkung war die „Bill of Rights“, in der 1689 den Protestanten das Tragen von Waffen – und damit Wehrhaftigkeit gegenüber staatlichem Zugriff – zugestanden wurde. Gleichzeitig wurde das Parlament zum Gegenspieler des Königs, ohne dessen Zustimmung er u.a. keine Steuern mehr erheben konnte.

In den jungen USA nahm man sich das zum Vorbild und gestand 1789 den Bürgern grundsätzliche Rechte auf Meinungs-, Religions-, Presse- und Versammlungsfreiheit zu (Frauen und Sklaven allerdings nicht). Im selben Jahr schrieben sich nach der Revolution in Frankreich die „citoyens“, die aufgeklärten und mitgestaltenden Bürger, das Recht auf Freiheit, Eigentum, Sicherheit und Widerstand gegen Unterdrückung in die Verfassung.

Spätestens seit diesem Doppelschlag gegen die bis dahin Herrschenden ist die Verfassung einer Gesellschaft der verbindliche Vertrag, den sie mit sich selbst schließt – und ein Spiegel ihres Umgangs mit Minderheiten und anderen Schutz- befohlenen. Bestehen bleibt der geforderte Respekt vor jenen, die eine höhere Macht repräsentieren – den „Respektspersonen“. Aber auch diese Macht ist nicht mehr allumfassend. Sie darf ihren Tanzbereich nicht mehr verlassen.

Die Geschichte der Verfassungen ist seitdem die einer permanenten Selbstbefragung und Verfeinerung. Mühsam erstritten wurden von den Sozialisten die Rechte der arbeitenden Bevölkerung, von den Suffragetten das Frauenwahlrecht, von der Bürgerrechtsbewegung die Gleichberechtigung der Schwarzen. Gesellschaft bedeutet, dass eine Vielzahl von Subjekten ständig aufs Neue ihre Rechte und Ansprüche verhandelt. Die einen im Sinne des Gemeinwesens, andere nur mit Blick auf die eigene Situation. Dieser Tanz wird kaum jemals ein Ende nehmen – mit allen Konflikten, die sich daraus ergeben.

Was ist mit dem Recht der Kinder auf Gewaltfreiheit, mit dem Recht des Flüchtenden auf Asyl? Wie steht es um das Recht homosexueller Paare auf Gleichberechtigung? Ist das einklagbar? Warum nicht? Die Ausdifferenzierung der Rechte in immer raffiniertere Verästelungen ist eine anstrengende Angelegenheit. Ohne Rückschläge und Widerstände ist sie nicht zu haben. Geht es etwa um die berüchtigten Unisex-Toiletten oder die Verwendung einer gegenderten Sprache, setzt bei einem Teil der Mehrheitsgesellschaft bisweilen Überdruss ein („Jetzt ist aber mal gut!“). Was bedeutet, dass für eine Einfühlung in die betroffene Gruppe hier aktuell noch geworben werden muss.

Wirklich gefährlich wird es, wenn sich Herrschende an einen Rückbau rechtlicher Errungenschaften machen und Minoritäten – Migranten, Homosexuellen, religiösen Minderheiten – die Anerkennung verweigern und sie so der Diskriminierung preisgeben. Je geringer der Respekt, umso größer die Gefahr der Verrohung. Wer wissen will, wie hoch eine Gesellschaft moralisch wie zivilisatorisch ent- wickelt ist, der beobachte sie beim Tanzen.

Schließlich gilt noch immer, was nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte formuliert worden ist: „Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren.“

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