Thema – Generationen

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Betreff: Letztes Jahrhundert

Schwer auszumalen, was spätere Generationen über uns denken werden. Ziemlich sicher aber ist: Wir sollten uns bei ihnen entschuldigen. Ein Brief an die, die nach uns kommen

Zukunftsbaby

Liebe zukünftige Generationen, 

falls es diese Zeilen zu euch schaffen, ans Ende des 21. Jahrhunderts, an den Beginn des 22. Jahrhunderts: Welche Botschaft würdet ihr von uns erwarten? Rechnet ihr mit vorauseilender Bewunderung für das, was ihr in der fernen Zukunft erreichen werdet? Ein Eingeständnis unserer geistigen Beschränktheit? Oder doch eher eine Entschuldigung für das, was wir euch eingebrockt haben? 

Sorry dafür, dass Polkappen geschmolzen, Inseln versunken und Landmassen geschrumpft sind

Zum Beispiel dafür, dass womöglich die Polkappen geschmolzen, Inseln versunken und die Landmassen geschrumpft sind. Dafür, dass ihr eure Zivilisation vielleicht in riesigen Türmen in die Höhe stapeln müsst, Hunderte Stockwerke Ackerflächen, darüber Wohnetagen bis weit über die Wolken, während wir unser Leben noch schön in die Weite ausfalten konnten – Dörfer, Städte, Wiesen im Wechsel. Oder lebt ihr auf Stelzen, die ihr ins Meer gepflockt habt? 

Hört man auf die Klimaforscher, kann einem vor der Zukunft grauen. Sie warnten uns in den letzten Jahren zunehmend lauter, aber wir bliesen dennoch Jahr für Jahr Unmengen CO₂ in die Atmosphäre. Wir wussten, dass es nicht gut gehen kann. Sorry! 

Aber vielleicht haben auch die Optimisten recht behalten. Diejenigen, die jetzt sagen: Keine Panik, es wird immer besser auf Erden – von ein paar Kleinigkeiten mal abgesehen. Der Hunger ging in der letzten Dekade – 2017 ausgenommen – weltweit zurück, die Kindersterblichkeit sinkt, die Lebenserwartung steigt, immer weniger Menschen kommen durch Krieg oder Gewalt ums Leben, und wir werden klüger. Und für die Probleme, die wir geschaffen haben, na ja, da werden die Nachgeborenen schon noch schlaue Lösungen finden. Vielleicht ist das wahr, vielleicht aber einfach nur eine Universalrechtfertigung für jeden Leichtsinn der Gegenwart.

Zukunftsvisionen handeln meist von technischen Fortschritt – wie aber werden Menschen später miteinander umgehen?

Habt ihr sie gefunden? Könnt ihr mittlerweile den Atommüll unschädlich machen? Können eure Regierungen mit einem Computerprogramm das Klima regulieren? Gibt es noch Regierungen? Oder nur noch Internetkonzerne? Gibt es überhaupt noch das Internet? Oder kommt euch das vor wie uns die Flaschenpost? 

Wenn man Zukunftsvisionen liest, sind sie oft voll mit fantasievoller Technik: Manch einer stellt sich fliegende Autos vor, Marskolonien unter einer Glasglocke oder in die Augen implantierte Computerchips. Sich dagegen die Gesellschaften der Zukunft auszumalen, fällt sehr viel schwerer. Wie lebt ihr? Wie geht ihr miteinander um? Sind Liebe, Beziehung, Wut, Werte, Scham noch dasselbe wie für uns? Könnt ihr unsere Gedanken nachvollziehen? Haltet ihr uns für Barbaren, weil wir Tiere töten und essen? 

Der Historiker Harari bezweifelt, dass künftige Generationen unsere Vorstellung von Demokratie teilen werden

Der israelische Historiker Yuval Noah Harari glaubt: Die Zukunft gehört dem Homo Deus, einem mit Computeralgorithmen und Biotechnologie optimierten Menschen, der dank der Eingriffe ins Erbgut und der Koppelung von Computer und Gehirn so anders denkt und fühlt, dass er sich von uns unterscheidet wie wir uns von Affen oder Robotern. Ein Mensch, der vielleicht kaum mehr ein Verständnis hat für unsere heutigen Vorstellungen von Demokratie und Menschenwürde.

Zukunftsprognosen liegen oft so verlässlich daneben wie ein Hund, der nicht zu seinen Besitzern ins Bett darf. Sie schreiben Trends fort und übersehen, dass auch mal Unvorhergesehenes dazwischenkommt. Eine Anfang der 70er-Jahre ausgestrahlte Fernsehdokumentation stellte sich die Welt im Jahr 2000 zum Beispiel so vor: Die Menschen arbeiten nur noch 25 Stunden in der Woche, gehen mit 50 in Rente, kommunizieren über ein Fernsehtelefon miteinander. Neue Unternehmen, sogenannte Datenbanken, sammeln das Wissen der Welt und geben es gegen Gebühr heraus. Manchmal stimmt die Richtung, wenn auch eher grob. Aber insgesamt ist unser Leben doch sehr anders als diese Vision. Und sie ist erst 46 Jahre alt. 

Manch einer, etwa der 2006 verstorbene Historiker Reinhart Koselleck, vermutet, dass der Blick in die Zukunft für uns immer komplizierter wird. Im Mittelalter war es nicht schwer, sich auszumalen, wie das Leben in 50, 100, 200 Jahren ist – es blieb im Wesentlichen recht gleich. Heute können wir kaum abschätzen, was nächste Woche sein wird. Wir sind aufgeklärter denn je, aber die Zukunft ist ein immer dichterer Nebel.

Die heutige Zeit könnte später wie eine schweigsame Epoche wirken, weil kaum Quellen überliefert sein werden

Auch die Fähigkeit, uns den kommenden Generationen mitzuteilen, gerät ins Wanken. Die Sumerer hämmerten ihr Wissen auf Tontafeln, die zum Teil bis heute bestehen. In unserem Alltag wäre die Kommunikation über Tontafeln wenig praktikabel. Wir produzieren Unmengen Texte, Bilder, Filme und speichern immer mehr davon rein digital. Nie war die Menschheit mitteilsamer als heute. Und trotzdem könnte unsere Zeit auf euch wirken wie eine schweigsame, finstere Epoche, weil kaum Quellen überliefert sein werden. 

 Eine Festplatte hält vielleicht 10, eine CD 30 Jahre. Wir müssten unsere immer weiter wachsenden Datenberge ständig kopieren und umformatieren, wenn irgendetwas davon bei euch ankommen soll. Vielleicht reißt die Kette eines Tages ab. Wenn ein Cloud-Speicher-Anbieter pleitegeht. Wenn eine große Wirtschaftskrise kommt, vielleicht ein Krieg. 

 

Im Barbarastollen im Schwarzwald werden wichtige Dokumente der deutschen Geschichte auf Mikrofilm eingelagert, das hält zumindest 500 Jahre lang. Und eine private Initiative aus Österreich, das „Memory of Mankind“, archiviert seit einigen Jahren einen Teil unserer digitalen Spuren für euch, die ferne Nachwelt: Zeitschriftenartikel, Romane, einige Blogs, beliebig ausgewählte Facebook-Profile, auf Keramik gebrannt und in einen Berg eingelagert. 

Mit hoher Wahrscheinlichkeit wird euch dieser Brief nicht erreichen. Falls aber doch, falls irgendein Algorithmus ihn zufällig ausgewählt hat und ihr ihn jetzt auf einer Steinplatte, auf Mikrofilm, Ton oder Keramik lest: Sorry, dass er so lang geworden ist. Und alles, alles Gute euch noch. 

Bernd Kramer macht sich auch von Berufs wegen – er ist Journalist – viele Gedanken, wie das Leben in der Zukunft aussehen wird. Für fluter.de war er zum Beispiel als digitaler Tagelöhner unterwegs

Illustration: Enrico Nagel

Dieser Text wurde veröffentlicht unter der Lizenz CC-BY-NC-ND-4.0-DE. Die Fotos dürfen nicht verwendet werden.