„Lösen wir die Probleme nicht jetzt und gehen sie entschieden an, dann kommen die Probleme zu uns.“ Entwicklungshilfeminister Gerd Müller am 11. November 2016 bei der Ankündigung seines „Marshallplans mit Afrika“ 

Ramzi trägt einen weißen Helm und rührt Beton. Kürzlich hat er in Miknessi, einer Kleinstadt im Herzen Tunesiens, eine Ausbildung im Trockenbau begonnen, in einem mit deutscher Hilfe errichteten Ausbildungszentrum. Für Ramzi war es ein Glücksfall: „Die Chancen auf eine Arbeit sind hier sehr gering. Ohne die Ausbildung wäre ich nach Europa gegangen und hätte dort nach Arbeit gesucht“, sagt er in einem kurzen Imagefilm, den die staatliche deutsche Entwicklungsorganisation GIZ über ihr Projekt gedreht hat.

Die öffentliche Entwicklungshilfe präsentiert seit einiger Zeit eine Reihe solcher Musterbeispiele und auch Testimonials wie das von Ramzi: Ausbildungen werden gefördert, lokale Unternehmensgründer unterstützt, Landwirte in nachhaltigem Anbau geschult. Der Etat des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ) ist in diesem Haushaltsjahr deutlich gewachsen. Für 2017 liegt er bei 8,5 Milliarden Euro, gut eine Milliarde Euro mehr als im Jahr 2016. Bereits 1970 versprachen die Industriestaaten auf der UN-Vollversammlung, mindestens 0,7 Prozent vom Bruttonationaleinkommen für Entwicklungsausgaben aufzuwenden. 2017 erreicht Deutschland erstmals dieses Ziel. Auch durch die anrechenbaren Flüchtlingsausgaben im Inland hat das BMZ diese Zielgröße 2017 erstmals seit 47 Jahren erreicht.

„Um das Heimatland zu verlassen, braucht es ein Minimum an Ressourcen“

Wenn es heißt, man müsse die Fluchtursachen bekämpfen, dann schwingt oft mit: Man muss dafür sorgen, dass die Menschen vor Ort Perspektiven haben. Die Entwicklungszusammenarbeit rückt auch deswegen wieder in den Blickpunkt. Aber funktioniert das so einfach? „Es gibt ein Dilemma“, sagt der Sozialwissenschaftler Benjamin Schraven vom Deutschen Institut für Entwicklungspolitik. „Sobald sich die Situation in einem Land verbessert und die Einkommen steigen, nimmt die Migration zunächst einmal zu statt ab.“ Der Trend kehre sich erst ab einem sehr hohen Entwicklungsgrad wieder um.

Auf den ersten Blick mag das überraschen. „Um das Heimatland zu verlassen, braucht es aber ein Minimum an Ressourcen. Wo absolute Armut herrscht, werden kaum Menschen die mitunter beschwerlichen und teuren Reisen auf sich nehmen können“, sagt Schraven. Damit sind auch die horrenden Preise gemeint, die Schleuser verlangen, um Menschen auf lebensbedrohlichen Wegen in andere Länder zu schmuggeln – etwa nach Italien.

Das spricht gegen die Vorstellung, mit Entwicklungspolitik schnell Fluchtursachen bekämpfen zu können. Es gibt noch zwei weitere Gründe, warum der Gedanke mitunter zu kurz greift. So nutzen die Entwicklungsprojekte wenig, wenn sie durch andere Entscheidungen torpediert werden. Die EU unterstützt zum Beispiel mit Milliardensummen ihre Landwirte beim Exportieren – was dazu führt, dass viele Kleinbauern Afrikas kaum die Chance haben, sich mit ihren Produkten auf dem Weltmarkt zu behaupten. Die Industrieländer versuchen mit ihrer Entwicklungshilfe oft Missstände zu bekämpfen, die sie durch ihre Agrar- und Handelspolitik mitverursachen.

Das größte Missverständnis ist aber vielleicht dieses: Oft ist Migration ja gar nicht das Problem, das die Entwicklungshilfe bekämpfen sollte – sondern in Wahrheit ein Teil der Lösung. Menschen, die ihr Land verlassen, um zum Beispiel in Europa Arbeit zu finden, überweisen einen großen Teil der Einkünfte in ihre Heimat zurück. Laut IFAD, einer Unterorganisation der Vereinten Nationen, beliefen sich diese Geldtransfers im Jahr 2016 weltweit auf 445 Milliarden Dollar.

Eine kluge Politik, sagt Experte Schraven, sollte Migration nicht bekämpfen, sondern sie nutzen

Die Rücküberweisungen der Migranten waren damit mehr als dreimal so hoch wie die weltweiten Ausgaben für Entwicklungshilfe. Eine kluge Politik, sagt Experte Schraven, sollte Migration daher nicht bekämpfen, sondern sie nutzen: indem sie legale Arbeitsmöglichkeiten schafft oder dazu beiträgt, dass Rücküberweisungen im Heimatland der Migranten bestmöglich genutzt werden können.

 

„Das Ziel der Entwicklungspolitik ist die Verbesserung der politischen, ökonomischen und sozialen Situation vor Ort“, sagt Schraven. „Als Mittel zur Fluchtursachenbekämpfung halte ich sie für fragwürdig.“

„Zunächst liegt unsere Hauptverantwortung unter anderem darin, die Ursachen der Migrationsströme, die wir erleben, anzugehen.“ EU-Ratspräsident Donald Tusk am 11. November 2015 während eines zweitägigen Sondergipfels europäischer und afrikanischer Spitzenpolitiker in Valletta, der Hauptstadt Maltas

Samir Abi ist viel unterwegs. Der Ökonom arbeitet bei der NGO Observatoire Ouest Africain des Migrations in Togo, doch nun meldet er sich per Skype aus seinem Hotel in Kampala, der Hauptstadt Ugandas. Die Grenzen zu überqueren ist für ihn selbstverständlich, so wie für viele Menschen in Afrika. Aber es wird immer schwieriger, berichtet Abi.

Einmal zum Beispiel saß er stundenlang zwischen Mali und Niger fest. Ein anderes Mal hätten Grenzpolizisten versucht, ihn an einem Übergang zwischen Nigeria und Benin mit der Waffe einzuschüchtern. Abi berichtet, dass die Beamten selbst von Kindern Geld verlangen, die auf der Reise zu ihren Verwandten sind. So habe er es im vergangenen Oktober auf dem Weg nach Agadez beobachtet: Minderjährige dürfen erst weiter, nachdem Angehörige gekommen sind, um die Polizisten zu bestechen. „Es gibt seit einiger Zeit einen Wettbewerb der Länder darum, wer am meisten für die Migrationskontrolle tut, weil es dann Geld aus Europa gibt“, sagt Abi.

Nichtstaatliche Hilfsorganisationen sind alarmiert

Auf dem Gipfel in Valletta im Jahr 2015 beschlossen die europäischen Staats- und Regierungschefs unter anderem einen Nothilfe-Fonds von 1,8 Milliarden Euro. Ein Teil der Projekte dient dem Grenzschutz weit hinter Europas Grenzen. Etwa im Sudan. Das Land ist eine wichtige Transitstation für Menschen, die aus dem benachbarten Eritrea auch vor dem praktisch unbegrenzten Wehrdienst fliehen. Sudan gilt ebenfalls als repressives Regime, Präsident Umar al-Baschir wird unter anderem wegen Kriegsverbrechen vom Internationalen Strafgerichtshof per Haftbefehl gesucht. Trotzdem soll das Land Unterstützung aus dem Nothilfe-Fonds erhalten: Die EU erwägt unter anderem, 17 sudanesische Grenzposten mit Computern, Scannern und Kameras auszustatten.

Auch die GIZ, die Entwicklungshilfeorganisation des Bundes, beschränkt ihre Arbeit nicht auf nachhaltige Landwirtschaft oder Berufsschulen in Tunesien. In Mauretanien zum Beispiel baute sie in den vergangenen Jahren drei Grenzstationen, schulte Polizisten und lieferte Pass-Scanner. An der Grenze zwischen dem Niger und Nigeria errichtete sie – kofinanziert durch die EU – für 1,35 Millionen Euro neun Polizeiposten, lieferte außerdem Pick-ups und zwölf Motorräder, wie die Bundesregierung angibt.

Nichtstaatliche Hilfsorganisationen sind alarmiert: Die EU-Staaten versuchten die Grenzkontrollen immer weiter ins afrikanische Festland zu verlagern – und deklarieren die Abschottung in der Ferne vor den Wählern zu Hause als Fluchtursachenbekämpfung, kritisieren die Hilfsorganisationen Brot für die Welt, Pro Asyl und Medico International in einer gemeinsamen Erklärung. Besonders absurd sei das, erzählt Migrationsaktivist Abi, weil viele Landesgrenzen in Afrika quer durch Familien, Volksgruppen und Sprachgemeinschaften verlaufen. Sie wurden einst künstlich von den Kolonialherren geschaffen und nun plötzlich zur streng bewachten Realität.

„Die Bundesregierung ist überzeugt, dass die große Bewegung von Flüchtlingen auch dadurch gelöst werden kann, dass wir vor Ort die Fluchtursachen bekämpfen.“ Bundeskanzlerin Angela Merkel am 4. Februar 2016 in London während einer Geberkonferenz für Syrien

Für den Weg von seinem Schlafzimmer zum Büro nimmt Jakob Kern morgens den Lift, vom 15. Stock in den ersten: Das Welternährungsprogramm (WFP) und sein Landesdirektor sind in einem streng bewachten Hotel in Damaskus untergebracht, der ehemalige Ballsaal ist die Kommandozentrale. Es ist ein sicherer Ort für die Hilfsorganisation und ihre Mitarbeiter im geschundenen Syrien.

Millionen Menschen sind im Bürgerkriegsland auf Lebensmittelhilfen angewiesen. Keine leichte Aufgabe. Landesdirektor Kern, ein Schweizer, ist manchmal selbst mit Konvois unterwegs, in gepanzerten Fahrzeugen, mit Helm und kugelsicherer Weste. Ständig wird die Ladung kontrolliert, an manch einem Checkpoint musste Kern 20 Stunden ausharren.

2015 musste das Welternährungsprogramm die Lebensmittelhilfen in Syrien und den Nachbarländern massiv herunterfahren. Der Krieg dauerte damals bereits Jahre, ein Ende war nicht in Sicht. Und das Interesse der Weltöffentlichkeit zog langsam weiter zu anderen Konfliktherden der Erde. In der Folge wurden die Gelder, die die Regierungen UN-Hilfswerken wie dem Welternährungsprogramm überweisen, immer weniger. Auch Deutschland fuhr die Mittel zurück. Bis die Flüchtlinge nach Deutschland kamen.

Im Februar 2016 vereinbarten Deutschland und andere Geberländer auf der Konferenz in London, die Nothilfen für Syrien aufzustocken. Ein Großteil des Geldes, sagt Landesdirektor Kern, sei zwar erst im Herbst auf dem Konto des WFP gewesen. Aber mit den Zusagen konnte er schon bald darauf Nahrung auf dem Weltmarkt einkaufen. Jede Großbestellung schreibt das Welternährungsprogramm öffentlich aus, zwei bis drei Wochen dauert es, bis der günstigste Lieferant gefunden ist, weitere vier Wochen, bis zum Beispiel eine Reislieferung für das WFP aus Indonesien im Hafen von Tartus eintrifft, in Boxen verpackt und auf die Laster verladen werden kann. Ab Mai 2016, gut zwei Monate nach der Londoner Konferenz, konnte das WFP die Rationen schließlich wieder hochfahren.

Kern muss ständig justieren: Vergrößert er lieber die Rationen pro Familie, oder weitet er den Empfängerkreis aus? Nach den Londoner Zusagen konnte er vier Millionen Syrerinnen und Syrer mit jeweils 1.700 Kilokalorien am Tag versorgen – für viele Menschen in Deutschland wäre das eher eine Diät.

In diesem Jahr ist das Geld bereits knapper, einige Geberländer haben ihr Engagement wieder zurückgefahren. Und Kern hat neu justiert: den Empfängerkreis bei vier Millionen belassen, die Rationen dafür auf 1.500 Kilokalorien gekürzt. „Die Menschen müssen sich damit noch gut 700 Kilokalorien woanders besorgen, aus dem eigenen Garten etwa oder über Nachbarn“, sagt er. „Ideal ist das nicht, aber verkraftbar, weil sich die Kriegssituation etwas entspannt hat.“

Wie es im nächsten Jahr aussieht, kann Kern nicht sagen – und das ist auch eines der größten Probleme. Wenige Länder, sagt er, geben langfristige Finanzzusagen, viele entscheiden von Jahr zu Jahr neu, wie viel Geld sie dem Welternährungsprogramm zuweisen. Für 2018 waren bis Ende August erst 40 Millionen gesichert – von 800 Millionen, die das WFP in Syrien nach eigenen Angaben braucht. Kerns Job ist es, die ständigen Hängepartien möglichst klug zu überbrücken.

Akuter Hunger mag eine Fluchtursache sein, die Erwartung an die Zukunft ist eine andere: Selbst wenn ich heute zu essen bekomme, wie sicher kann ich sein, dass ich auch morgen noch satt werde? „Wenn wir von vier Millionen Lebensmittelhilfe-Empfängern direkt auf null gehen, ist die Gefahr groß, dass die Menschen fliehen werden“, sagt Kern. „Der Schock trägt sehr zur Flucht bei. Wenn wir graduell anpassen, können wir das verhindern.“ Dies ist eine Lehre aus dem Jahr 2015, als die Unterstützungen für viele Bedürftige abrupt abbrachen.

Den wichtigsten Fluchtgrund kann aber auch Kern nicht beeinflussen: den Krieg im Land.

„Wir sind hier gemeinsam, weil wir die Fluchtursachen bekämpfen wollen.“ Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen (CDU) während eines Besuchs bei den 220 Bundeswehrsoldaten am Nato-Stützpunkt Incirlik in der Türkei am 21. Januar 2016


Es beginnt meistens mit dem Wetter. Für ihre Mission in Incirlik hat die Bundeswehr eigens Wetterberater stationiert, Lisa Z., Mitte 20, Oberleutnant der Luftwaffe, ist eine von ihnen. Für jeden Flug ermittelt sie, ob die Sicht klar ist oder mit welchen Winden zu rechnen ist. Manchmal kann das Wetter schnell umschlagen, die Vorhersagen sind schwierig. Bevor die Besatzung der Tornados abhebt, bespricht sie Lisa das Wetter. „Feste Arbeitszeiten gibt es dabei nicht, da die Startzeiten der Luftfahrzeuge ständig variieren“, sagt sie in einem Bericht auf der Internetseite der Bundeswehr. Wegen des Streits mit der Türkei, eigentlich einem Verbündeten, wurde die Mission kürzlich nach Jordanien verlegt.

In Syrien ist die Terrormiliz IS nur eine von vielen Kriegsparteien, vor deren Gräueltaten die Menschen fliehen

Siebzig Prozent der Geflüchteten, die zwischen 2013 und 2016 nach Deutschland kamen, nannten den Krieg und bewaffnete Konflikte als Grund – die Gewalt rangiert als Fluchtursache damit ganz oben. Das zeigt eine Studie des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge. Insofern liegt es nahe, dass die Politik ihr militärisches Engagement im Nahen Osten auch als Fluchtursachenbekämpfung sieht – wie Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen (CDU) es bei einem Truppenbesuch formuliert.

Der Bundeswehreinsatz richtet sich dabei gegen die Terrormiliz IS, die zuletzt deutlich geschwächt war. Von Incirlik aus starteten Aufklärungsflugzeuge. So sollten die Aktivitäten der Islamisten beobachtet werden. Der IS ist in den deutschen Medien zwar sehr präsent, weil er auch in Europa Kämpfer rekrutiert und Anschläge verübte. In Syrien ist die Terrormiliz allerdings nur eine von vielen Kriegsparteien, vor deren Gräueltaten die Menschen fliehen.

Die Organisation Adopt a Revolution hatte im Herbst 2015 in deutschen Erstaufnahmeeinrichtungen rund 900 Syrer befragt. Viele von ihnen haben zwar aus Furcht vor dem IS ihre Heimat verlassen – mit zwei Dritteln allerdings floh der Großteil vor dem Regime von Machthaber Assad und seinen Verbündeten, die wiederum gegen den IS kämpfen. 

Der Konflikt in Syrien ließ sich auch deswegen bisher kaum lösen, weil Großmächte und die Staaten in der Region ganz unterschiedliche Interessen haben. Russland und der Iran halten zu Assad, die USA und Saudi-Arabien unterstützen die Opposition. Diese Fluchtursache ist vielleicht am schwierigsten aus der Welt zu schaffen.

Titelbild: Daniel Pilar/laif