Normalerweise haben politikwissenschaftliche Diplomarbeiten und Politthriller absolut gar nichts gemein. Was aber der Berliner Politikwissenschaftler Matthias Corbach unter dem drögen Titel „Die deutsche Stromwirtschaft und der Emissionshandel“ vorlegte, hatte eindeutig das Zeug zum Krimi. Corbach, mittlerweile Doktorand an der FU Berlin, zeigte, wie die Verhandlungen über die sogenannten CO2- Zertifikate abliefen: Politiker wurden bedrängt, ehemalige Minister mit hochkarätigen Verträgen ausgestattet, die Gewerkschaften unter Druck gesetzt und schließlich sogar ein Wissenschaftler aus seiner Position gedrängt, weil er eine kritische Studie veröffentlicht hatte.

Die deutsche Stromwirtschaft gilt als eine der mächtigsten Branchen Deutschlands. Kein Wunder in einem Land, das vor allem von der Produktion von Autos und Maschinen lebt, Industrien, die sehr viel Strom benötigen – und den am liebsten billig. Die klassischen Energieerzeuger sind neben der Großindustrie die größten CO2-Verursacher des Landes.

Bereits 1997 wurde im sogenannten Kyoto-Protokoll festgeschrieben, die Emissionen der sechs wichtigsten Treibhausgase – darunter CO2, Methan und FCKW – im Zeitraum von 2008 bis 2012 um mindestens fünf Prozent unter das Niveau von 1990 zu senken; wenig später begannen innerhalb der EU Diskussionen darüber, wie diese Verpflichtungen umgesetzt werden könnten. Der Emissionshandel war die zentrale Idee. Dahinter steckte Folgendes: Unternehmen sollten Zertifikate erhalten, die ihnen einen bestimmten CO2-Ausstoß erlauben. Wer weniger Dreck verursachte, sollte mit den Zertifikaten handeln dürfen – und so belohnt werden.

Damals aber gab es weder verlässliche Zahlen über den CO2-Ausstoß Deutschlands noch irgendwelche Erfahrung mit dem Handel von derlei Zertifikaten. Daher rief die Regierung unter Bundeskanzler Gerhard Schröder im Jahr 2000 die Arbeitsgruppe „Emissionshandel zur Bekämpfung des Treibhauseffektes“ ins Leben. Der Vorsitz lag beim Bundesumweltministerium, zur Gruppe gehörten neben Vertretern weiterer Bundesministerien auch Vertreter von rund 30 großen deutschen Unternehmen, Abgesandte von Wirtschaftsverbänden wie dem des deutschen Steinkohlebergbaus und dem der deutschen Elektrizitätswirtschaft. Zudem gemeinnützige Organisationen wie BUND, WWF und Germanwatch.

Bald entwickelte sich diese ursprünglich als Diskussionsplattform gedachte Arbeitsgruppe zum Schlachtfeld der Einflussnahme: Industrie und Stromerzeuger versuchten in den folgenden Jahren, einen Emissionshandel zur Verringerung des CO2-Ausstoßes komplett zu verhindern. Dann, als das scheiterte und auf europäischer Ebene eine Entscheidung ohne deutschen Einfluss drohte, versuchten die Vertreter von Unternehmen und Verbänden, den Emissionshandel wahlweise freiwillig zu gestalten oder durch sehr hoch angesetzte CO2-Richtwerte zu beeinflussen.

Um ihre Interessen durchzusetzen, das kann man in Matthias Corbachs Diplomarbeit nachlesen, drohten die Energieversorger mal mit geringeren Investitionen oder höheren Strompreisen, dann wieder warnte die Industrie vor dem Verlust von Tausenden von Arbeitsplätzen. In den Tageszeitungen wurden Anzeigen gegen den Emissionshandel veröffentlicht. Dazu kamen wissenschaftliche Studien, die beängstigende Zahlen verbreiteten: 56.000 Arbeitsplätze stünden auf dem Spiel, 15 Milliarden Euro würde diese Art des Klimaschutzes allein bis 2012 kosten. Ein in den Bundestag gewählter ehemaliger Bundesminister stand damals den großen Stromkonzernen als Berater zur Seite.

Insgesamt listet Corbach im Anhang seiner Diplomarbeit fast 40 Bundestagsabgeordnete auf, die auf die eine oder andere Art einer Nebentätigkeit für die Energiewirtschaft nachgingen.

Die Pointe dieses Politthrillers ist: Im Grunde ist alles genau so gedacht. Regierung und Parlament sollen sich, so sehen es die Regeln vor, mit den großen Interessengruppen des Landes zusammen- und auseinandersetzen. Die Politikwissenschaftler Werner Jann und Kai Wegrich nennen dieses Modell im „Lehrbuch der Politikfeldanalyse“ den „kooperativen Staat“: ein Staat also, der sich nicht einfach im stillen Kämmerlein Gesetze ausdenkt, die dann mit der Wirklichkeit zusammenprallen. Sondern einer, der all diejenigen, die von einem neuen Gesetz betroffen sind, auch fragt, was sie davon halten und was es für sie bedeutet.

Es ist wichtig, dass sich Politiker mit Experten beraten – es muss nur alles transparent sein

Auch wenn der Begriff „Lobbyismus“ in Deutschland einen schlechten Klang hat, bedeutet er nichts anderes als: Interessenvertretung mit dem Ziel, politische Entscheidungen zu beeinflussen – nicht mehr, nicht weniger. Es gibt sogar eine öffentliche Liste über die beim Bundestag registrierten Verbände und deren Vertreter, in der – laut Geschäftsordnung des Bundestages – alle Vertreter von Verbänden registriert sind, die man als Experten in den Bundestag laden kann. Die Idee dahinter: Wenn sich bei der Schaffung von Gesetzen nicht nur Politiker, sondern auch Experten einbringen, wird die Qualität neuer Gesetze und Regelungen besser.

In der Theorie klingt das gut, in der Praxis funktioniert es sehr mittelmäßig. So erfolgt die Aufnahme in die „öffentliche Liste“ über die beim Bundestag registrierten Verbände und deren Vertreter auf Antrag, viele Interessengruppen fehlen. LobbyControl, eine Nichtregierungsorganisation (NGO), die sich unter anderem für mehr Transparenz in der Gesetzgebung einsetzt, kritisiert deswegen: „Die Verbändeliste erfasst weder die Lobbybüros der Unternehmen noch Lobby- und PR-Agenturen oder Anwaltskanzleien, die Lobbyarbeit im Auftrag wechselnder Kunden betreiben. Gerade bei diesen wäre es wichtig zu wissen, für wen sie eigentlich arbeiten.“ Für Christian Humborg, Geschäftsführer von Transparency International Deutschland, ist genau diese Grauzone zwischen klarer Interessenvertretung und undurchsichtigen politischen Runden das Problem, in der Abgeordnete und Minister bisweilen auch persönlich von den wechselseitigen Kontakten zu Lobbyisten profitieren.

Selten bekommt man wirklich Einblick, wie ein Gesetz in dieser Gemengelage von widerstreitenden Interessen entsteht. Das Beispiel des Emissionshandels ist da eine absolute Ausnahme. In den letzten 20 Jahren gibt es laut einem NGO-Geschäftsführer in ganz Deutschland gerade mal drei Fälle, die so gründlich aufgearbeitet wurden.

Transparency International Deutschland fordert deshalb seit einiger Zeit einen sogenannten legislativen Fußabdruck, bei dem im Anhang zu einem Gesetzentwurf alle Interessenvertreter aufgelistet werden, die Abgeordnete oder Ministerialbeamte bei ihrer Arbeit an einem Gesetz kontaktiert haben. Noch ist es nicht so weit, aber für Transparency-Mann Humborg ist es schon ein gutes Zeichen, dass das Thema Lobbyismus mittlerweile auf der Tagesordnung der Presse und in den Wahlprogrammen einiger Parteien angekommen ist. Und der Emissionshandel? Der wurde 2005 eingeführt.

Allerdings durften die Unternehmen so viel CO2 hinausblasen, dass der Handel mit den Verschmutzungslizenzen bis 2012 so gut wie nicht funktionierte. Es wurde sogar mehr CO2-Ausstoß erlaubt als überhaupt nötig. In der Folge sank der Preis pro Lizenz für eine Tonne CO2 von den erwarteten 30 auf grob fünf Euro. Doch das nächste Kapitel hat schon begonnen: Am 3. Juli 2013 stimmte das Europäische Parlament für eine zeitweilige Verknappung der CO2-Zertifikate. Der Kampf geht also weiter.