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Was heißt schon normal

In „Normale Menschen“ erzählt die gefeierte irische Autorin Sally Rooney von einer komplizierten Liebe und dem zerstörerischen Wunsch, sich anzupassen

  • 3 Min.

In der Literaturwelt gilt Sally Rooney, aufgewachsen im Westen Irlands, mit gerade mal 29 Jahren schon als Stimme der Millennial-Generation. Ihren ersten Roman „Gespräche unter Freunden“, der 2019 in deutscher Übersetzung erschien, veröffentlichte sie noch während ihres Masterstudiums am Trinity College in Dublin. Ihr zweiter Roman „Normale Menschen“ ist gerade auf Deutsch erschienen – und international so erfolgreich, dass die BBC kurzum eine Serie daraus machte. 

Worum geht’s?


Eigentlich könnten Marianne und Connell unterschiedlicher nicht sein: sie, ein Mädchen aus einer wohlhabenden Familie, das in der Schule als Außenseiterin gilt. Er, der Junge aus einer Arbeiterfamilie, Star der Fußballmannschaft und Teil einer großen Clique. Ihre Leben in einer Kleinstadt im Westen Irlands hätten sich nicht kreuzen müssen. Doch Connells Mutter arbeitet als Putzkraft im Haushalt von Mariannes Familie, und so kommen die beiden irgendwann ins Gespräch. Es beginnt eine Beziehung, die zunächst hauptsächlich von gegenseitiger Faszination und sexueller Anziehungskraft geprägt ist und sich im Laufe der Zeit zu einer tiefen Freundschaft und Liebe entwickelt. Auch nach der Schule, beide studieren an der Uni in Dublin, kommen sie nicht voneinander los, obwohl immer wieder Monate vergehen, in denen Funkstille herrscht. Denn auf einmal sind die Rollen vertauscht: In der Großstadt ist Marianne die coole Studentin, die von Männern angehimmelt und auf Partys eingeladen wird, während Connell der merkwürdige Typ ist, der sich hinter Büchern versteckt und versucht, seinen Platz inmitten von Akademikerkindern zu finden.

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Normale Menschen
„Normale Menschen“ erschien bei Luchterhand und kostet 20 Euro

Wie ist das erzählt?

Der Stil von „Normale Menschen“ ist im ersten Moment etwas gewöhnungsbedürftig, Rooney schreibt sehr nüchtern und emotionslos. Es wirkt beinahe dokumentarisch, wenn sie scheinbar willkürliche Ausschnitte aus dem Leben von Marianne und Connell präsentiert und dabei auf den ersten Blick nebensächliche Details von Menschen, Umgebungen und Situationen in aller Ausführlichkeit beschreibt. Einen klassischen Spannungsaufbau gibt es nicht, die Handlung findet in der Gegenwart statt, die Dialoge sind nicht durch Satzzeichen abgetrennt – es ist ein einziger Erzählfluss. Ist man erst einmal reingekommen, ist es aber genau dieser Eindruck des Ungefilterten, der einen fasziniert. Wie in einem Film läuft der Roman vor den eigenen Augen ab: Man hat das Gefühl, Marianne und Connell bei ihrer Reise miteinander und zu sich selbst aus nächster Nähe zu begleiten – und spürt dabei ihre Verlorenheit, Verzweiflung und Unsicherheit beinahe auf jeder Seite.

Was gelingt nicht so gut?

Richtiges Identifikationspotenzial haben Marianne und Connell nicht, dafür vereinen die beiden zu viele der möglichen Heranwachsenden-Probleme in zu kurzer Zeit in sich. Auch weiß man nach der Lektüre nicht so recht, ob die beiden nun eigentlich gut oder schlecht füreinander sind. Denn so stark ihre sexuelle Anziehungskraft und gegenseitige Faszination auch zu sein scheinen: Ob es wirklich eine beidseitige, aufrichtige, romantische Liebe oder eher eine toxische sexuelle Abhängigkeit ist, ist nicht eindeutig herauszulesen. So lässt „Normale Menschen“ einen etwas ratlos zurück.

 

Warum sollte man es trotzdem lesen?

Weil gerade diese Widersprüchlichkeiten und die offenen Fragen zum Nachdenken anregen. Man ertappt sich dabei, sich selbst ständig zu fragen: Ist das normal? Und wenn nicht: Wieso eigentlich nicht? So zeigt Rooney, dass „Normalität“ auch nur ein gesellschaftliches Konstrukt ist. Allerdings eines, das Menschen in echte Identitätskrisen stürzen kann, vor allem wenn sie in einer Lebensphase sind, in der sie sich selbst noch finden müssen. Besonders bei Marianne wirkt dieser gesellschaftliche Druck zerstörerisch: Weil sie denkt, Strafen und schlechte Behandlung verdient zu haben, lässt sie sich von Männern ausnutzen und missbrauchen. Wer und was von den Protagonist*innen als „normal“ angesehen wird, lässt Rooney immer wieder beinahe nebensächlich einfließen – um es dann zu dekonstruieren. So macht sie klar: Identität ist nicht fixiert, man kann sich immer wieder neu erfinden – und vermeintliche Normalität ist keine Kategorie, an der man sich dabei orientieren sollte.

 

Stärkster Satz:

Wie stark sich die eigene Identität wandeln kann, erkennt auch Connell gegen Ende des Romans: „Schon lustig, welche Entscheidungen man trifft, weil man jemanden mag, sagt er, und dann ist das ganze Leben anders. Ich glaube, wir sind in diesem komischen Alter, in dem sich das Leben durch kleine Entscheidungen gewaltsam verändern kann.“

Titelbild: ALBERTO CRISTOFARI/laif

Dieser Text wurde veröffentlicht unter der Lizenz CC-BY-NC-ND-4.0-DE. Die Fotos dürfen nicht verwendet werden.