Klaus Karwat gibt es zu: Auch er zählt zu den Nutznießern der Politik, mit der die Europäische Zentralbank (EZB) seit der Finanzkrise versucht, die Wirtschaft wieder anzukurbeln. Karwat sitzt in dem tageslichtdurchströmten Reihenhaus, das er sich vor gut drei Jahren mit einer Baugruppe direkt am Ufer der Spree in Berlin gebaut hat. Der Kredit war damals schon recht günstig, und so hat die Niedrigzinspolitik der EZB ihren Teil dazu beigetragen, dass der Familienvater seinen Traum von Luft und Platz verwirklichen konnte. „Das war fein“, sagt er.

Dennoch würde Karwat lieber auf Zins-Achterbahnfahrten, Finanzblasen und -crashs verzichten. Der Politologe und Galerist ist Vorsitzender eines Vereins, der für die Idee kämpft, dass ein Wirtschaftssystem ohne Schocks und Ausschläge besser funktionieren könnte. Und dass so etwas überhaupt möglich ist. Der Verein fordert ein „Vollgeld“. Vollgeld bedeutet, dass die Banken kein Geld mehr „erfinden“ dürfen. Alles Geld, was sie verleihen, müssten sie sich dann selbst vorher irgendwo geliehen haben. „Den ganzen teuren Irrsinn der EZB mit Niedrigzinspolitik und einer Flut billigen Geldes könnten wir uns dann sparen“, frohlockt Karwat.

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cms-image-000048148.jpg (Foto: Kirill Golovchenko)
(Foto: Kirill Golovchenko)

Banken erfinden Geld? Das klingt erst einmal verblüffend. Ein wenig nach Verschwörungstheorie. Haben wir nicht in der Schule gelernt, dass die Zentralbank entscheidet, wann Geld gedruckt wird? Dass Banken Geldvermittler sind, die jenes Geld, das ihnen Sparer anvertrauen, gegen Zinsen an Leute oder Firmen verleihen, die einen Kredit brauchen? Beide Fälle gibt es, doch der Großteil der modernen Finanzwirtschaft funktioniert anders: Wenn eine Bank einen Kredit vergibt, erschafft sie in der Regel Geld. Geld, das vorher gar nicht da war. Sie schreibt dem Kreditnehmer den gewünschten Betrag auf seinem Konto gut und sich eine entsprechende Forderung in die Geschäftsbücher. Auf diese Weise vermehrt sich die Geldmenge immer, wenn ein Kredit vergeben wird. Das gedruckte Geld von der Zentralbank (oder das, was diese den Banken leiht) macht hingegen nur einen geringen Anteil in unserem Geldkreislauf aus. Und Banken müssen nur einen winzigen Teil des Geldes, mit dem sie arbeiten, durch Eigenkapital garantieren (bisher in der Regel ein Prozent). Deshalb gibt es immer wieder in Krisen die Angst, dass viele Bankkunden ihre Guthaben zurückziehen und damit das Finanzsystem zum Zusammenbruch bringen (der sogenannte Bankrun). Deshalb kann die EZB nur durch indirekte Maßnahmen die Geldmenge steuern und dafür sorgen, dass mehr Geld in die Märkte fließt – etwa mit den Niedrigzinsen.

Dann würde in Boomzeiten weniger Geld in Blasen gepumpt

All dieser Sorgen wäre man laut Karwat und seiner Mitstreiter ledig, würden sie sich mit ihrer Vision durchsetzen. Aber ist das überhaupt möglich? Schließlich gibt es berechtigtes Misstrauen gegenüber Leuten, die mit Wirtschaftskonzepten um die Ecke kommen, die angeblich das ganze System retten können.

Doch die Idee vom Vollgeld wird nicht nur von Aktivisten wie Karwat propagiert, sondern auch von namhaften Ökonomen. Schon vor gut drei Jahren untersuchten zwei Wirtschaftswissenschaftler in einem Arbeitspapier für den Internationalen Währungsfonds (IWF) die Vollgeld-Konzepte und kamen zu dem Schluss, dass die Idee durchaus ein realistisches Rezept gegen künftige Krisen sein könnte. In den USA und Europa würden die Schulden sinken und die Wirtschaftsleistung gleichzeitig steigen, rechneten die Autoren vor. Einer der beiden, Michael Kumhof, arbeitet heute an führender Stelle in der Forschungsabteilung der Bank of England.

 

„Wir stolpern von einer Krise in die nächste, ohne die Ursachen zu durchdenken“

Ein anderer Befürworter aus der Ökonomenzunft ist der ehemalige Chefvolkswirt der Deutschen Bank, Thomas Mayer, der inzwischen einen Thinktank leitet, den der Fondsbetreiber Flossbach von Storch unterhält. Seit der Finanzkrise plädiert der Wissenschaftler für Grundsatzreformen im Wirtschaftssystem. „Wir stolpern von einer Krise in die nächste, ohne die Ursachen zu durchdenken und die Konsequenzen zu ziehen“, beklagt er. Das Vollgeld wäre für ihn eine solche sinnvolle Maßnahme. Bei der Betrachtung der Krise liege auf der Hand, „dass die Möglichkeit der Banken zur Geldschöpfung ein wesentliches Problem ist“, sagt Mayer. Sie sorge dafür, dass es kreditfinanzierte Blasen und aufgeblähte Finanzprodukte gibt, mit der Folge, dass all das mit schweren Folgen für die Wirtschaftsteilnehmer zusammenbricht. Wenn die Banken nur solches Geld verleihen dürften, das sie sich zuvor selbst irgendwo leihen müssen, dann würde in Boomzeiten weniger Geld in Blasen gepumpt. „Krisen lassen sich immer wieder auf exzessive Kreditvergabe zurückführen“, sagt er. Daher müsse man die Banken wieder zu dem machen, was sie lange Zeit waren: Vermittler zwischen denjenigen, die Geld sicher anlegen wollen, und denen, die es für Investitionen brauchen.

Seinen Ursprung hat das Konzept in der großen Weltwirtschaftskrise in den Jahren nach 1929. Damals argumentierten mehrere Ökonomen vor allem in den USA, dass „100% money“, wie der Wissenschaftler Irving Fisher seinen Entwurf nannte, eine Versicherung gegen neue Crashs und Krisen sein könne. Rezessionen und Depressionen wie in den 30er-Jahren würden gedämpft und Anleger geschützt. Obwohl die Pläne damals viele Sympathien hatten, setzten sich die Vertreter des Finanzsektors durch, die ihn naturgemäß ablehnten.

 

„Das ist die eierlegende Wollmilchsau, die die da versprechen“

Daran hat sich nicht viel geändert. Beim Bundesverband deutscher Banken in Berlin hat Volker Hofmann begonnen, sich mit den Vollgeld-Theorien auseinanderzusetzen, um den Standpunkt der hiesigen Finanzwirtschaft in der neuen Diskussion zu vertreten. Der Direktor im Geschäftsbereich Wirtschaftspolitik und Internationale Beziehungen bei dem Branchenverband hat noch einmal die entsprechenden Theorien gewälzt und auch das Buch von Mayer studiert. Überzeugt hat ihn das nicht. „Das klingt so toll, das ist die eierlegende Wollmilchsau, die die da versprechen“, sagt er. „Im Endeffekt ist das sehr, sehr naiv.“ Sein Argument: Die Möglichkeit der Banken, Buchgeld (sogenanntes Giralgeld) zu schöpfen, indem sie Kredite vergeben, sei überhaupt nicht schuld an den schädlichen Ausschlägen der Konjunktur. „Booms haben nicht ursprünglich mit Giralgeldschöpfung zu tun“, sagt er. „Die gab es auch schon, als noch der Goldstandard galt.“ Wenn die Banken gezwungen würden, jeden Euro an Gegenwert vorzuhalten, würde die Geldeinlage für Sparer teuer werden, prophezeit er – dann müssten die Banken nämlich Gebühren dafür nehmen. Dazu kommt für ihn das Argument, dass es in den meisten Vollgeld-Modellen die Zentralbank ist, die das alleinige Recht bekommt, neues Geld in den Kreislauf zu geben. Das würde aber den Zentralbankern und den sie kontrollierenden Politikern ungesund viel Macht geben, argumentiert Hofmann. „Die Funktion dezentraler Kreditvergabe sollte in der Verantwortung privater Unternehmen sein“, sagt Hofmann. Wenn die Zentralbank über die Geldmenge entscheidet, dann würde sie auch letztlich entscheiden können, wer wo investieren kann und wer nicht, ergänzt er. Das Vollgeld führe somit zu einer schädlichen staatlichen Wirtschaftslenkung.

Karwat und seine Mitkämpfer versprechen das Gegenteil: eine demokratisch kontrollierte „Monetative“, also eine vierte Gewalt neben Legislative (Gesetzgebung), Exekutive (Regierung) und Judikative (Rechtsprechung), eine eigene Instanz, die für das Geld zuständig ist. Weil ihnen das so wichtig ist, haben sie auch ihren Verein „Monetative e.V.“ genannt. Aber Karwat gibt auch zu, dass die Reformer das Konzept dafür erst noch entwickeln müssen – so ganz ausgefeilt sei das noch nicht.

Island arbeitet schon an der Einführung des Vollgelds

Während die Reformer in Deutschland noch an Konzepten feilen und in die Öffentlichkeit zu kommen versuchen, sind ihre Kollegen in zwei europäischen Ländern schon einen Schritt weiter. In der Schweiz hat die dortige Vollgeld-Initiative im Dezember die notwendige Anzahl an Unterschriften für ihr Ziel erreicht. Das bedeutet, dass sich nun das Parlament in Bern mit dem Plan befassen muss und in drei bis gut vier Jahren das Volk darüber abstimmen darf, ob im Bankenland Schweiz die Geldrevolution stattfindet. In Island arbeitet Frosti Sigurjónsson, der Vorsitzende des Wirtschaftsausschusses im dortigen Parlament, im Auftrag der Regierung einen Plan für die Einführung des Vollgelds im Inselstaat aus. Island war durch die Finanzkrise und den Zusammenbruch seiner Banken besonders getroffen worden.

Natürlich haben sich Karwat und seine Vereinskollegen längst mit Gleichgesinnten in der ganzen Welt vernetzt, darunter auch jenen, die in Island und der Schweiz für das Vollgeld kämpfen. Im April haben die deutschen Vollgeld-Kämpfer ihr nächstes Treffen angesetzt, da wollen sie überlegen, wie sich das Thema stärker ins Bewusstsein der Leute bringen lässt. Karwat ist jetzt Anfang 50, ein optimistischer und nachdenklicher Zeitgenosse. Wird er das noch erleben, dass hierzulande wirklich die Geldrevolution eingeführt wird? „Schwer zu sagen“, meint er und blickt skeptisch zum Fenster Richtung Spree. „Aber wie war es mit dem Fall der Mauer?“, fragt er dann. „Wie ist es mit Systemen, die fallen, weil sie in sich unlogisch sind?“

Lutz Meier ist Wirtschaftsreporter und Autor des Monatsmagazins Capital in Berlin. Er war Medienredakteur für die Financial Deutschland und berichtete für die Gruner+Jahr Wirtschaftsmedien als Büroleiter aus Paris.