In der Kölner Fleischmengergasse vor der Hausnummer 24, zwischen indischen Supermärkten und türkischen Cafés, ist ein sogenannter Stolperstein ins Pflaster eingelassen. Er erinnert an Rachela Geppert, die 1888 geboren wurde und hier wohnte, bis man sie 1941 erst nach Lodz deportierte und 1942 im Vernichtungslager Kulmhof (Chelmno) umbrachte – weil sie Jüdin war. Ein Teil ihrer Familie war damals bereits aus Nazideutschland geflohen, darunter auch ihre Tochter, die auf einem Flüchtlingsschiff am 31. August 1939, einen Tag vor Ausbruch des Zweiten Weltkriegs, in Southampton ankam.

Wäre sie damals nicht aus Deutschland geflohen, hätte es Michael Newman vielleicht nie gegeben. Denn Newman ist Rachela Gepperts Urenkel und heute der Vorsitzende der Association of Jewish Refugees (AJR), die 1941 von Juden im Exil in London gegründet wurde. Zehntausende flohen damals aus Deutschland und Österreich nach Großbritannien. Sie verloren nicht nur ihre Heimat, von November 1941 an wurde allen über die Reichsgrenze deportierten und geflüchteten deutschen Juden zudem die deutsche Staatsbürgerschaft gesetzlich aberkannt.

Dieses Unrecht versuchte der deutsche Staat nach dem Krieg wiedergutzumachen, indem er einen Artikel in das Grundgesetz schrieb, dass „frühere deutsche Staatsangehörige, denen zwischen dem 30. Januar 1933 und dem 8. Mai 1945 die Staatsangehörigkeit aus politischen, rassischen oder religiösen Gründen entzogen worden ist, und ihre Abkömmlinge“ auf Antrag wieder einzubürgern sind. Doch nur wenige Juden machten von diesem Recht Gebrauch. Kaum jemand wollte Bürger eines Landes werden, in dem das jüdische Leben quasi ausgelöscht worden war. In vielen jüdischen Familien, deren Angehörige in den KZ umgebracht wurden, blieb Deutschland über Jahrzehnte verhasst.

So gingen laut Auswärtigem Amt in den vergangenen Jahren gerade mal etwa 25 Anträge pro Jahr in der deutschen Botschaft in London ein, doch seit dem Brexit haben sich die Verfahren auf derzeit geschätzte 350 bis 400 laufende Anträge vervielfacht. „Die deutsche Staatsbürgerschaft neben der britischen ist für mich eine Option, eine Versicherung. Sie würde bedeuten, dass mir die EU offensteht. Ich könnte dort leben und arbeiten, wie ich will. Das ist nichts, was ich heute oder in drei Monaten tun will, aber ich könnte es jederzeit tun“, sagt Rachela Gepperts Urenkel Michael Newman. Auch die Londoner Reformrabbinerin Julia Baroness Neuberger will die deutsche Staatsbürgerschaft. „Ich bin Britin, war aber niemals Engländerin, bin permanent Europäerin, mit deutschen Wurzeln und einem Grundstück in Irland“, verkündet sie auf einer Konferenz zum 75-jährigen Jubiläum der AJR.

Nicht nur der Brexit hat das einst Unvorstellbare zur Option gemacht. Dass es in Berlin mittlerweile wieder eine rege jüdische Szene gibt und viele junge Israelis in die Stadt ziehen, hat wohl genauso zu einem positiveren Deutschlandbild beigetragen wie die vergleichsweise liberale Flüchtlingspolitik und die hiesige Diskussion, ob sich ein Nationenbegriff in Zukunft mehr am Bekenntnis zu demokratischen Werten als an der Abstammung orientieren sollte (siehe Interview im Heft auf Seite 14).

Doch längst nicht alle Mitglieder der jüdischen Gemeinde in London sehen den Andrang bei der deutschen Botschaft positiv. „Diese Leute sollten ihren Kopf untersuchen lassen“, zitiert der „Guardian“ den Überlebenden Harry Heber, der die Annexion Österreichs durch Nazideutschland erlebt hat und 1938 nach England floh. „Die Vorstellung, ausgerechnet dort Zuflucht zu suchen, wo man meine Verwandten ermordet hat, finde ich entsetzlich.“