Meist beginnt es mit einem lauten Grollen, gefolgt von einer weißen Wolke, die in die kalte Gebirgsluft emporsteigt. Darunter: eine Masse aus Eis und Schnee, die sich unaufhaltsam und mit hoher Geschwindigkeit ihren Weg ins Tal bahnt und Menschen, Tiere und sogar Häuser unter nassem Schnee begräbt. Was das ist? Klar: eine Lawine.

 

Mit am eindringlichsten kritisierte den Lawinen-Vergleich der Sprecher der Grünen Jugend, Erik Marquardt. Der 28-Jährige veröffentlichte auf Twitter ein Bild, auf dem links eine Lawine und ein Schriftzug „Lawine“ zu sehen ist und rechts ein Foto von wartenden Männern und einem Flüchtlingsjungen, der hungrig in ein Stück Brot beißt. Auch dort befand sich ein Schriftzug. Und zwar: „Menschen“.Zwei Dinge sind dabei festzuhalten. Erstens: Lawinen sind gefährlich und töten in Gebirgsregionen regelmäßig Menschen. Zweitens: Sosehr man auch versucht, sich vor ihnen zu schützen – etwa mit Schutzmauern an besonders steilen Berghängen – , so ganz sicher ist man vor ihnen nie. Gilt das beides etwa auch für die nach Europa kommenden Flüchtlinge? Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble (CDU) hat sie im November vergangenen Jahres zumindest mit einer Lawine verglichen – und dafür viel Kritik geerntet.

Bundesjustizminister Heiko Maas (SPD) nutzte ebenfalls Twitter, um kundzutun, dass „Menschen in Not keine Naturkatastrophe“ seien. Er warnte davor, „mit Worten Öl ins Feuer“ zu gießen. Und Günter Burkhardt, Geschäftsführer der Menschenrechtsorganisation „Pro Asyl“, kritisierte, mit solchen Lawinen-Äußerungen würden „Schutzbedürftige zu einer Bedrohung hochstilisiert“ – was dann „Wasser auf die Mühlen der Rechtspopulisten“ sei. Schäuble verteidigte die Verwendung des Begriffs Lawine in Bezug auf die nach Deutschland kommenden Flüchtlinge daraufhin in einer Talkshow. Er habe den Begriff benutzt, um das Thema der wachsenden Zuwanderung „menschenverständlich“ zu machen, sagte er dort. Zustimmung erhielt Schäuble vor allem von Parteikollegen. Der Vize-Vorsitzende der Unions-Bundestagsfraktion, Michael Kretschmer, sagte im Handelsblatt, Schäuble habe mit seiner Aussage die „Stimmung in der Bevölkerung getroffen“.

Gleichzeitig werden solche Begriffe etwa von Sprachwissenschaftlern immer wieder kritisiert. Lann Hornscheidt etwa hat eine Professur für Sprachanalyse an der Berliner Humboldt-Universität inne und schreibt, dass solche Katastrophenvergleiche „auf einer unbewussten Ebene“ wirken und in den Köpfen der Menschen Ängste auslösen. Hornscheidts Argument gegen die Verwendung solcher Begriffe ist also: Sprache prägt unser Bewusstsein.Die heftigen Reaktionen auf den Lawinen-Vergleich sind überraschend. Schließlich werden in der Debatte um steigende Flüchtlingszahlen von Politikern wie Journalisten regelmäßig Begriffe mit Katastrophenmetaphorik verwendet – ohne dass sich allzu viele ihrer Kollegen daran öffentlich stören würden. Beschreibungen wie eine „Flut“ oder „Welle“ von Flüchtlingen sind ebenso wie der unaufhaltsam nach Europa drängende „Flüchtlingsstrom“ in den deutschen Medien an der Tagesordnung. Den letztgenannten Begriff verwenden auch Mitarbeiter der UN.

Wer Katastrophen-Begriffe wie „Lawine“ und „Flut“ vermeiden will, der kann alternativ auch konkrete Zahlen verwenden oder schlicht von „Zuzug“ sprechen. Das schlagen die „Neuen Deutschen Medienmacher“ – ein Zusammenschluss von Journalisten mit und ohne Migrationshintergrund – in ihrer an Journalisten gerichteten Broschüre „Formulierungshilfen für die Berichterstattung im Einwanderungsland“ vor.

 

Trotz aller Argumente, die Fans der „Ströme“, „Flüsse“ und „Wellen“ halten an den Metaphern fest. Die rechtspopulistische österreichische Partei FPÖ etwa schreibt auf ihrer Homepage, man lasse sich „nicht den Mund verbieten“ und legt sprachlich noch ein Schippchen drauf: Es gebe sie nun mal, die „gewaltige Völkerwanderungswelle, die Europa überschwemmt“.In der Debatte um Zuwanderung und Migration gibt es auch zahlreiche Formulierungen ohne Katastrophen-Bezug, die laut Kritikern ebenfalls negative Wertungen transportieren können. Zum Beispiel der Begriff „Wirtschaftsflüchtling“. Dem Migrationsexperten Klaus Bade zufolge könnte „Wirtschaftsflüchtling“ zwar theoretisch als „wertneutrale Beschreibung von unfreiwilliger Migration aus wirtschaftlichen und sozialen Notlagen“ verwendet werden. Doch werde mit dem Begriff sprachlich subtil auch eine Unterscheidung zwischen „richtigen“ Flüchtlingen – also solchen, die etwa vor politischer Verfolgung geflohen sind – und „falschen“ Flüchtlingen – also solchen, die fern der Heimat ein besseres Leben anstreben – vorgenommen. Aufgrund dieser Unterscheidung, so Bade, transportiere der Begriff bewusst oder unbewusst eine „denunziatorische Bedeutung“. Er setze also eine bestimmte Gruppe von Menschen in ein schlechtes Licht.

Fabian Scheuermann ist Volontär bei der Bundeszentrale für politische Bildung.