fluter: Seit wann gibt es eigentlich ein Bewusstsein für Unterschiede zwischen den Generationen? Teilte sich die Gesellschaft nicht früher einfach nur in Menschen auf, die mit ihrer Arbeit zum Überleben der Familie beigetragen haben oder eben nicht?

Tatjana Thelen: Die Frage nach dem Ursprung ist schwer zu beantworten, aber sicher ändern sich die Vorstellungen von Generationen im 19. Jahrhundert. Das hat mit dem Aufkommen der bürgerlichen Familie zu tun, in der bestimmte Rollen neu definiert wurden. So ist zum Beispiel auch die liebende Großmutter, die Marmelade kocht und Märchen erzählt, eine relativ junge Figur. Das sind alles kulturelle Vorstellungen, nichts ist naturgegeben.

Auch nicht die starken Gefühle, die Eltern für ihr Kind haben?

Die deutlich emotionalisierte Eltern-Kind-Beziehung hängt auch mit Vorstellungen über Kindheit zusammen. Zunehmend setzte sich ein Verständnis von Kindern als schützenswerte Wesen durch, die nicht für Geld arbeiten, geschlagen werden oder Sex mit Älteren haben sollen. Stattdessen sollen sie in die Schule gehen. In jüngerer Zeit sieht man sie zunehmend als mit besonderen Rechten ausgestattet. Diese Ideen werden seit der Kolonialzeit exportiert und zum Beispiel durch Entwicklungspolitik oder NGOs in hohem Maße auch global verbreitet.

Es gibt aber Länder, die zum Beispiel mit Kinderarbeit kein Problem haben. In Bolivien gibt es sogar Kindergewerkscha !en, die im Namen der Kinder das Recht auf Arbeit verteidigen.

Ja, das stimmt, und auch in Europa und Nordamerika war das Thema Kinderarbeit lange umstritten. Vor allem in der Landwirtschaft, aber auch anderen Familienbetrieben war und ist der Beitrag von Kindern wichtig. Wir sehen Überbleibsel davon zum Beispiel bei den sogenannten Kartoffelferien. Diese wurden eingeführt, damit die Kinder bei der Ernte helfen konnten. Nach wie vor lernen Kinder in vielen Gegenden der Welt durch die Mitarbeit im Haushalt, auf dem Hof oder in der Werkstatt.

Kann man von Kulturen, in denen das Miteinander der Generationen anders organisiert ist, etwas lernen? Oft scheint dort zum Beispiel der Umgang mit Älteren empathischer zu sein.

Lange Zeit hat man geglaubt, dass alte Menschen in nicht industrialisierten Gesellschaften mehr geachtet und respektiert werden. Das lässt sich aber so nicht halten. Auch dort, wo es einen grundsätzlichen Respekt vor dem Alter gibt, hängt die individuelle Wertschätzung sowohl von mentaler Vitalität als auch vom persönlichen, auch materiellen, Erfolg im vorherigen Leben ab. Wem es gelungen ist, Kapital anzuhäufen – das kann Wissen sein, eine Viehherde oder Geld auf dem Konto –, wird wahrscheinlich im Alter mehr geachtet. Zudem finden wir natürlich auch Unterschiede zwischen den Männern und Frauen.

Es gibt auch Naturvölker, die ihre Alten opfern oder sterben lassen, wenn sie nicht mehr zum Überleben der Gemeinschaft beitragen können.

Als Ethnologin würde ich den Ausdruck „Naturvölker“ lieber nicht verwenden, aber Sie haben insofern recht: Neben einer Romantisierung anderer Gesellschaften finden wir auch das umgekehrte Bild eines anscheinend grausamen Umgangs mit alten Menschen in anderen Gesellschaften. In diesem Sinne wurden Vernachlässigung oder gar Tötung von alten Menschen, häufig in Bezug auf die Inuit, diskutiert. Dies bleibt allerdings umstritten. Aber wir können das Interesse daran – ebenso wie die Romantisierung – als Ausdruck unserer eigenen Beschäftigung mit dem Thema sehen. Neben solchen Beschreibungen kultureller Muster finden wir auch Erklärungen auf der individuellen Ebene. Zum Beispiel habe ich in einer Studie aus Indonesien von einer Frau gelesen, die im Alter allein gelassen wurde, bis sie verhungerte. Weder ihre Schwiegertochter noch Nachbarn oder andere Dorfbewohnerinnen und -bewohner wollten sich um sie kümmern. Sie hatte es wohl nicht geschafft, zu Lebzeiten genug positive Beziehungen aufzubauen.

Wie wichtig ist das Abtreten der Alten?

Sie meinen vielleicht die Vererbung von Besitz und Macht an die jüngere Generation? Das ist sicher ein wichtiger Teil von Generationenbeziehungen. In bäuerlichen Familien beispielsweise markiert die Übertragung des Hofes häufig den Schritt in die Selbstständigkeit und das Erwachsenwerden der jüngeren Generation. Auf der anderen Seite steht die Furcht der Alten vor dem Verlust der Macht und zumindest historisch auch die Gefahr, mit ihrem Abtreten nicht mehr ausreichend versorgt zu werden.

Lassen Sie uns über den demografischen Wandel reden. Gefährdet die drohende Überalterung der Gesellschaft nicht den sozialen Frieden, weil die Anliegen der Jungen wenig Gehör finden? Die Jungen haben das Gefühl, dass die Alten die Ressourcen verbrauchen und dann auch noch kaum bezahlbare Renten beziehen.

Ich bin mir nicht sicher, was Sie mit „Überalterung“ meinen bzw. woran Sie das „Über“ messen. Aber ja, wir beobachten ein Ansteigen der Lebenserwartung und in vielen Ländern auch eine Umkehrung der Bevölkerungspyramide. Diese Entwicklung wird häufig problematisiert, etwa in dem Zusammenhang, auf den Sie wohl im Hinblick auf die Renten anspielen.

Bei einem Rentenalter von derzeit 67 …

Das mag niedrig erscheinen, wenn man bedenkt, dass das Alter heute einen viel größeren Teil des Lebens einnimmt als zu der Zeit, in der das Rentenalter eingeführt wurde. Daher spricht die Soziologie auch von „jungen Alten“, „mittelalten Alten“ und „alten Alten“. Diese Abschnitte sind nur bedingt vom tatsächlichen oder chronologischen Alter abhängig, sondern vielmehr auch von der individuellen Lebens- und Gesundheitssituation. Insofern denkt man heute darüber nach, diese Übergänge flexibler zu gestalten. Jemand, der körperlich tätig war, geht vielleicht früher in Rente, ein anderer arbeitet bis ins hohe Alter. Zum Beispiel finde ich persönlich die Vorstellung, mit 65 aufzuhören zu arbeiten, aus meiner heutigen Perspektive nicht unbedingt attraktiv.

Ein anderes Problem ist der drohende Kollaps der Pflegesysteme, wenn es zu viele Menschen gibt, um die sich gekümmert werden muss.

Zunächst ist es ja mal eine positive Entwicklung, dass die Lebenserwartung und auch die Vitalität vieler Menschen zunehmen. Daher ist das Ausmaß der schon lange vorausgesagten Care-Krise noch nicht sicher. Momentan beobachten wir einen Anstieg der Zahl der Pflegekräfte aus dem Ausland.

Und das halten Sie für ein probates Mittel?

Häufig wollen Menschen im Alter durchaus eine enge emotionale Bindung zu ihren Verwandten, aber nicht unbedingt von ihnen körperlich gepflegt werden. Das kann etwas mit Scham zu tun haben. Laut Umfragen möchten in Japan zum Beispiel wesentlich mehr Menschen von einem Roboter als von einem Familienangehörigen gepflegt werden.

Haben die Generationen früher enger zusammengelebt?

Wenn Sie damit die Idee meinen, dass in Europa früher Menschen eher in Mehrgenerationenhaushalten gelebt haben: nein. Auch die Vorstellung, dass die Bedeutung von Verwandtschaft in der Moderne abgenommen hat, wurde von Sozialhistorikern weitestgehend widerlegt. Im Gegenteil: Man kann feststellen, dass verwandtschaftliche Beziehungen in der Moderne wichtiger werden.

Es gibt aber die Kritik, dass die Alten zunehmend in Pflegeheime abgeschoben werden.

Genau für diese Kritik wird die Vorstellung, dass es früher besser gewesen sei, herangezogen. Gleichzeitig trägt dazu bei, dass ein Leben im Alter in der Familie als gut und in der Institution als schlecht empfunden wird. Allerdings gab es ja einerseits früher gar nicht so viele alte Menschen, die von ihrer Familie hätten versorgt werden müssen. Andererseits gab es auch früher schon Institutionen, in denen die Seniorinnen und Senioren gelebt haben. Deren Anteil an der Gesamtbevölkerung ist zumindest bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts ziemlich konstant geblieben. Zudem werden auch in Deutschland die meisten älteren Menschen zu Hause gepflegt.

Und dann ist die Pflege meistens Sache der Frauen, etwa von Töchtern, selten von Söhnen.

Das ist sicher richtig, sowohl bei der Pflege im Alter als auch bei der Versorgung von Kindern. Die Freistellung von Frauen von der Lohnarbeit wird gerade in einem konservativen Wohlfahrtsstaat wie Deutschland auch politisch gefördert. Instrumente wie das Ehegattensplitting belohnen vor allem Paare mit großen Einkommensunterschieden mit Steuervorteilen. Das sind häufig Familien, in denen der Mann Vollzeit arbeitet und die Frau zu Hause bleibt oder dazuverdient. Frauen, die als Mütter nicht oder nur geringfügig erwerbstätig sind, fallen auch in der Arbeitslosenstatistik nicht auf.

Besteht da nicht ein Widerspruch? Immerhin wird ja viel von Geschlechtergerechtigkeit gesprochen.

Es gibt verschiedene Ideale und Normen, die sich zum Teil überlappen oder gar widersprechen. Neben dem Gleichheitsideal gibt es eben auch Vorstellungen über eine „gute“ Kindheit, „gute“ Mütter und die Beziehung zwischen Eltern und Kindern. So wechseln Frauen häufig ihr Ideal der selbstständigen und berufstätigen Frau nach der Geburt ihres ersten Kindes gegen ein Ideal der guten Mutter, die eben nicht oder nur wenig erwerbstätig ist, aus. In dieser Lebensphase und auch später erscheint es dann logisch, dass sie sich auch um ältere Familienmitglieder kümmern. In der Praxis herrscht also ein eher konservatives Gendermodell, das sich neben der Kindeserziehung auch auf die Pflege der älteren Menschen – also die Beziehungen zwischen den Generationen – auswirkt.

Wie wichtig sind Zäsuren? Also biografische Einschnitte, bei denen man mehr Verantwortung übernimmt und feststellt: Ich bin jetzt erwachsen.

Sie spielen hier wahrscheinlich auf sogenannte Übergangsrituale an, die den Eintritt in eine neue Phase, einen neuen Lebensabschnitt markieren. Und ja, bei uns markiert der 18. Geburtstag einen solchen Übergang, an den dann auch neue Rechte und Pflichten geknüpft sind. Allerdings ist der Inhalt des Kind- oder Erwachsenseins ja nicht gegeben, sondern wird kulturell immer wieder neu ausgehandelt. Häufig wurde der Übergang zum Erwachsensein an der Geschlechtsreife festgemacht. So war es in Europa lange gang und gäbe, dass die Mädchen mit der Geschlechtsreife als heiratsfähig galten. Heute würde man in Deutschland ein Mädchen, das zum ersten Mal seine Tage bekommt, noch nicht unbedingt heiraten lassen. Es gibt kein globales System, wir können uns nur in einzelnen Gesellschaften immer wieder neu darauf einigen.

Lassen Sie uns noch über die Weitergabe von Erfahrungen sprechen. Wie wichtig ist der Austausch zwischen den Generationen?

Auch in dieser Frage scheint mir eine Kritik versteckt zu sein. Zumindest hört man häufig, dass heute nicht mehr genug Wert auf die Erfahrungen und das Wissen der alten Menschen gelegt würde. Allerdings ist es ja nicht generell so, dass auf Alte nicht gehört wird. So haben wir viele ältere Politiker, die im Parlament oder in Talkshows sitzen, der Papst ist ein alter Mann, und auch in der Wissenschaft kann durch Seniorität das Ansehen steigen. Auf der individuellen Ebene ist es vielleicht heute auch in Deutschland einfacher für die Enkelgeneration, den Großeltern zuzuhören, als vor einiger Zeit, als man noch vermuten musste, dass man einen Naziopa vor sich hatte.

Tatjana Thelen ist Professorin für Kultur- und Sozialanthropologie an der Universität Wien. Ihre Themenschwerpunkte sind Verwandtschaft, Pflege und soziale Sicherung