Geert Lovink ist Medientheoretiker und Netzkritiker und leitet das Institut für Netzwerkkulturen an der Hochschule Amsterdam (networkcultures.org). Von ihm ist das Buch „Zero Comments – Elemente einer kritischen Internetkultur“ erschienen und zuletzt „Das halbwegs Soziale – eine Kritik der Vernetzungskultur“

fluter: Facebook bezeichnet sich als „soziales Netzwerk“. Was ist denn das Soziale daran?

Geert Lovink: „Soziale Medien“ ist ein Schlagwort der auslaufenden Web-2.0-Ära, hinter dem letztlich eine Geschäftsstrategie steht. Die ideelle Überhöhung nutzt den Unternehmen. Der Bürger ist ein User, eingekapselt in Flickr, Facebook und Twitter. All diese Netzwerke sind Zeitfresser, die uns immer tiefer in die Höhle des Sozialen ziehen, ohne dass wir wissen, wonach wir eigentlich suchen. Die Architektur solcher Netzwerke ist sehr konformistisch. Es geht immer nur um Zustimmung, nie um Konflikte. Die negative Dimension des Sozialen wird ausgeblendet.

Jeder Facebook-Nutzer würde sagen, dass man Freunde sucht. Dass man sich austauscht, miteinander redet, Socializing betreibt ...

Aber das ist eine beschränkte Art und Weise, sozial zu sein, denn man unterhält sich ja nur mit seinen Freunden oder mit denen, die man dazuzählt. Es fehlen die Möglichkeit und der Wille, sich gegenüber Fremden zu öffnen, neugierig auf das Unbekannte zu sein. In dieser Hinsicht sind die Netzwerke bewusst sehr eingeschränkt. Soziale Netze sollten auch dazu dienen, etwas gemeinsam zu machen. Das wird nicht gefördert. Man bewegt sich in einer Art gated community – einem abgeschlossenen Zirkel.

Es gibt aber doch immer wieder Verabredungen über das Netz. Menschen treffen sich zu Partys, helfen gemeinsam, sammeln Geld. Auch demokratische Bewegungen wie der Arabische Frühling haben durch Dienste wie Twitter oder Facebook Auftrieb bekommen.

Es gibt solche positiven Wirkungen, aber auch negative oder nur neutrale. Es gibt auch rassistische Auseinandersetzungen, die über diese Netzwerke befeuert werden. Da ist Facebook ja auch nicht anders als das Telefon. Darüber können Sie sich zu einer guten Tat verabreden, Sie können aber auch beschließen, jemandem zu schaden.

„Unser Datenaustausch ist abhängig von großen Unternehmen, die alles mitlesen.“

Der ursprüngliche Gedanke des Internets war es, für einen freien Austausch zu sorgen – von Software, Ideen, Gedanken. Was ist davon denn übrig geblieben?

Nicht viel, denn momentan ist das Modell eher so, dass unser Datenaustausch von wenigen großen Unternehmen abhängig ist, die alles mitlesen. Gleichzeitig ist die informelle Atmosphäre gewachsen. Das ist ein sehr langer Trend im Internet und hat damit zu tun, dass die öffentliche Sphäre verschmutzt wurde durch Spam und anderen Sprachmüll. Als Reaktion darauf haben viele gesagt: Ich möchte mich mit all diesen Dummköpfen nicht mehr unterhalten. Ich spreche nur noch mit Leuten, denen ich vertraue. Das hat zu diesen geschlossenen Zirkeln von Informalität geführt, die aber gleichzeitig keinerlei Intimität bieten, weil Facebook viel zu transparent ist, um dort ohne Gefahr Gespräche führen zu können.

Dennoch vertrauen viele Menschen diesen Plattformen blind.

Anfangs ja, inzwischen nicht mehr. Vor allem jungen Leuten ist ja schon tausend Mal gesagt worden, dass sie vorsichtig sein sollen, was sie von sich ins Netz stellen. Und diese Message ist angekommen. Viele haben auch durch Beispiele in ihrer Umgebung gesehen, was passieren kann, wenn man nicht aufpasst. Das ist ein kollektives Lernmoment.

Lässt sich denn der ursprüngliche Geist des Internets, der freie und unkontrollierte Austausch, noch einmal zurückbringen?

Momentan wird darüber diskutiert, ob die notwendige Dezentralität von den Einzelnen geschaffen werden kann oder das doch wieder von oben dirigiert werden muss. Sind wir also in der Lage, von Punkt zu Punkt, von Computer zu Computer zu kommunizieren, ohne dass es Knotenpunkte gibt oder sogar wieder einen Kraken in der Mitte, auf den alles zuläuft? Das ist ja auch der Gedanke der Peer-to-Peer-Netzwerke.

Und? Sind wir in der Lage?

Das ist technisch sehr aufwändig, vor allem für den normalen Benutzer, und ist eher was für Computerexperten. Es gibt das Ideal, direkt zu kommunizieren, ohne dass jemand alles speichert für seine Zwecke, gleichzeitig weiß man, dass die telekommunikative Infrastruktur dafür nicht da ist. Deshalb sagen viele: Scheiß drauf, ich mache das über Facebook, oder wir reden über Skype, obwohl wir wissen, dass mitgehört werden kann.

„Das Vergessen ist das Beste. Das Passwort vergessen, die Dienste vergessen.“

Wie holen wir uns unsere digitale Mündigkeit zurück? Indem wir bei Facebook kündigen, das Twittern einstellen, Google meiden, uns Pseudonyme zulegen?

Ich plädiere für das Vergessen. Langeweile ist der größte Feind von Facebook.

Was heißt das?

Wir werden andere Sachen anfangen. Man zieht um, verliebt sich in eine neue Freundin oder einen neuen Freund, sucht sich ein anderes Hobby. Wie das Leben so spielt. Alles andere ist viel zu mühselig. Das hat die Vergangenheit gezeigt. Das Vergessen ist das Beste. Das Passwort vergessen, die Dienste vergessen. Das ist ja die größte Angst dieser Firmen, dass man sie vergisst.

Haben wir nicht auf der anderen Seite schon viel zu viel vergessen? Wie man sich richtig unterhält, ganze Sätze schreibt, echte Menschen trifft?

Das ist eine bestimmte Gruppe, die einem vielleicht leidtun kann. Es gibt aber keine Befunde, dass das eine große Bewegung ist. Früher haben die Menschen viele Stunden vor dem Fernseher gehockt, in der Generation unserer Großeltern sind viele ständig ins Kino gerannt.

Ist Google das neue Orakel von Delphi?

Mit Suchen macht Google sein Geld. Das Problem ist, wir kapieren nicht, was hinter dem Orakel steckt. Wir werden aufgefordert, Bücherlisten anzufertigen, Rankings zu erstellen und Produkte zu empfehlen. Wir sind Nutzer-Bienen, die für die Königin Google arbeiten. Der französische Ökonom Yann Moulier-Boutang hat das Online-„Bestäubung“ genannt.

Ist Google nicht eher ein fast staatliches Gebilde, das die Information der Welt organisiert?

Das stimmt, aber niemand hat uns gezwungen, dabei mitzumachen. Diese Macht ist unsichtbar, sie verführt, aber nicht auf eine klassische Art – also durch Bilder oder Ikonen. Sie verführt durch ihre unsichtbare Funktionalität. Das ist die neue Qualität von Machtausübung. In der nach-totalitären Gesellschaft kommt die Macht nicht mehr von oben, sie ist ein Dienstleister, der es sich zwischen uns bequem gemacht hat.

„Google ist der große Bruder, an den man sich ankuscheln kann.“

Und der es uns bequem macht.

Er ist der große Bruder, an den man sich ankuscheln kann.

„Don’t be evil“ lautet Googles Motto. Klingt so, als hätten sie schon vorher geahnt, dass man auf die Idee kommen könnte, dass sie es doch sind.

Sie versuchen alles Mögliche, damit die Leute nicht auf die Idee kommen, sie als böse einzustufen.

Wie kann denn die Macht einiger weniger Konzerne gebrochen werden?

Ich denke, dass diese Formen der Machtausübung nur beiseitegeschoben werden können durch neue Erfindungen, die auf anderen Ideen basieren.

Ohne dass wir an Bequemlichkeit verlieren.

Es muss etwas sein, das das Suchen ablöst. Suchmaschinen sind ja grundsätzlich enorm langweilig. Wenn man früher gesagt hätte, dass die Welt mal von Suchmaschinen beherrscht wird, wäre man ausgelacht worden. Das war doch immer das Langweiligste der Welt: Leute, die in Archiven auf kleinen Kärtchen nach etwas suchen.

Das passt doch aber ganz gut in die Zeit, in der viele suchen: sich selbst oder einen Lebensentwurf.

Vieles deutet auf eine Stagnation hin, die Gesellschaften kommen nicht richtig voran. Wir in Nordeuropa leben in so einer Art Pseudokrise. Wenn es diese Art der Stagnation weiterhin gibt, können Facebook oder Google ewig leben. Wenn es aber einen politischen Aufbruch gibt und die Technologie fortschreitet, werden sie ganz schnell langweilig.

Es gibt doch schon eine Politisierung. Die Menschen denken nachhaltiger, es gibt Kritik am Finanzwesen, Antiglobalisierungsbewegungen.

Die Frage ist, ob sich das umsetzt in eine kritische Masse. Und sich die Menschen fragen, ob sie nichts Spannenderes machen können. Momentan sind wir Arbeiter bei Google, ohne dass es uns bewusst ist. Wir müssen aber ein Netz haben, das der Welt nutzt und nicht den kurzfristigen Zielen eines Unternehmens. Durch das Machen erfinden wir neue Dinge. Googles Imperativ lautet: Durch das Suchen finden wir Neues. Aber nein. Durch das Suchen findet man nur das Bestehende. Machen ist das neue Suchen!

Die Politiker hinken dem Monopolstreben der Konzerne hinterher. Wäre es nicht an der Zeit, dass der Staat für neue Gesetze sorgt? Man denke nur an die Verletzung des Datenschutzes bei Cloud-Betreibern.

Ich habe den Eindruck, dass in den letzten 20 Jahren viel von den Erfahrungen mit totalitärer Macht vergessen wurde. In Westdeutschland, aber auch in den Niederlanden gab es große Proteste gegen die Volkszählung. Man wollte nicht zu viel von sich preisgeben, weil man um den Missbrauch wusste. Heute ist das vielen gleichgültig. Ich glaube, dass das stark mit dem Wechsel der Generationen zu tun hat. Die Menschen, die den Zweiten Weltkrieg miterlebt und versucht haben, daraus zu lernen, sind ausgestorben. Wir haben zwar manches übernommen, aber beim Computer waren wir von Anfang an unschlüssig, ob es ein Werkzeug der Unfreiheit ist oder eins der Befreiung. Wir waren unsicher, ob wir uns dem Computer generell verweigern oder mal schauen sollen, was man damit anfangen kann, um die Welt zu verbessern. Wir haben jahrzehntelang experimentiert, ob man innerhalb des Systems, das auch immer schon von großen Softwarefirmen besetzt war, etwas bewirken kann oder nicht. Es ist noch zu früh zu sagen, aber bald wird es eine Entscheidung geben, was letztlich gewinnen wird: die Versklavung durch Unternehmen oder die Freiheit.

„Bald wird es eine Entscheidung geben, was gewinnen wird: die Versklavung durch Unternehmen oder die Freiheit.“

Wurden nicht schon viel zu viele Daten gesammelt, um noch jemals frei zu sein?

Man muss Obacht geben. Alle sammeln Daten, der Staat, die Konzerne. Eine Kommission der EU hat ja neulich davor gewarnt, dass alles, was in der Cloud ist, überwacht wird. Viele europäische Unternehmen sind da völlig ahnungslos. Da geht es nicht nur um die Rechte Einzelner, es geht auch um wirtschaftliche Interessen.

Auf der einen Seite lesen also FBI und CIA unsere Dokumente, auf der anderen Seite unterstützen deutsche Unternehmen diktatorische Regime mit Software zur Überwachung von Regimegegnern. Scheint so, als habe die Unfreiheit gewonnen.

Der heutige, protestierende User ist weder der perfekte E-Bürger noch ein pathologischer, hirngeschädigter und multitaskender Einzelgänger. Wenn die Kids den machthungrigen Monopolen weglaufen, wäre das wahrscheinlich die wirkungsvollste Form politischer Aktion. Was wir verteidigen müssen, ist das grundsätzliche Prinzip dezentralisierter Netzwerke. Und dies wird von Staaten oder Firmen, die unsere Kommunikation kontrollieren wollen, angegriffen. Die Revolution dagegen kann nur eine technologische sein.

Herkömmliche Rechner verlieren rasant an Bedeutung. Die Onlinenutzung verlagert sich zunehmend auf das Smartphone. Was bedeutet das?

Es gibt diesen globalen Trend zur Miniaturisierung, und das bedeutet zunächst mal, dass sich unser Blickfeld weiter einengt. Wir müssen gegen die zunehmende Unsichtbarkeit der Technologie ankämpfen.

Bedeutet das, dass von der einstmaligen Vielfalt und Unbeschränktheit des Internets noch weniger bleibt? Schon heute bewegt sich ja der Großteil der User nur noch auf wenigen Seiten.

Die Begrenzung von Möglichkeiten ist sehr real, das ist leider so. Technisch gibt es keine Beschränkung, aber in der Organisation von Aufmerksamkeit. Das ist wie an einem Kiosk, der zehn Zeitungen haben könnte, aber nur zwei anbietet. Das Smartphone ist im Grunde der Einstieg in den Ausstieg aus der Vielfalt des Internets.