Europa ist mehr als nur ein Kontinent. Es ist ein schillernder Begriff, für Millionen Menschen alltägliche Erfahrung und ein permanentes historisches Großvorhaben. 

Der Vorgang der sogenannten europäischen Einigung, wie er mit der Europäischen Union, dem Euro und anderen institutionellen und informellen Netzwerken betrieben wird, ist ein fragiles Wunder. Jedenfalls vor dem Hintergrund der jahrhundertelangen Geschichte kriegerischer Zerstrittenheit dieses Fleckens Erde. Deshalb ist Europa auch für einen Blick von außen gut. Es zeigt sich dabei, was wir an dem Ganzen eigentlich jetzt schon haben können.

Die inneren Widersprüche lassen allerdings kaum Zeit für einen geruhsamen Fortschritt. In den gegenwärtigen Krisenzeiten stellen sich die grundlegenden Fragen immer wieder neu. Wie kann das Verhältnis von nationalen Kulturen und Staatlichkeiten zu europaweiten Regelungen bestimmt werden? Wie kann jenseits von Nationalstaaten demokratische Kontrolle funktionieren? Wie wird mit Minderheiten umgegangen? Hört beim Geld Europa auf? Und wer kann diese Fragen wo stellen, wer sie beantworten, wer soll entscheiden? Selbst wenn in Brüssel in den politischen Apparaten exzellente junge Leute ihre Arbeit tun, Europa kann nicht allein den jetzigen Eliten überlassen bleiben. Blicke auf den Alltag und Fragen an unseren Alltag sind deshalb schon der Anfang von Politik.

Oft wird Europa als Idee und Konstruktion bezeichnet, es ist aber auch ein ganz konkreter Ort: Hier leben Menschen, hier werden politische, gesellschaftliche, persönliche Geschichten erlebt. Zum Beispiel reisen Tausende Menschen aus den osteuropäischen Ländern in den Westen, um dort arbeiten zu können – während ihre Familien weit entfernt auf Heimatbesuche samt Einkommen warten. An den südlichen Grenzen Europas kommen täglich Menschen an, die lebensgefährliche Fahrten von Afrika über das Mittelmeer in Kauf nehmen, um nach Europa zu gelangen. Für sie ist die Spannung der Europäischen Union zwischen Offenheit nach innen und Abschottung nach außen oft eine Frage des Überlebens. An anderen Orten Europas kämpfen viele junge, gut ausgebildete Leute mit Arbeits- und Perspektivlosigkeit und fragen sich, was der europäische Gedanke ihnen eigentlich nützt. Die prekären Wirklichkeiten Europas sind widersprüchlich, sie zeigen die Zerrissenheit des Ganzen an.

Ob dieses entstehende Wunder Europa Bestand haben wird und auch für künftige Generationen gut gelebter Alltag sein kann, ist nicht sicher. Europa ist eine offene Frage, an die jetzigen und für kommende Generationen. Letztlich geht es darum, zu klären, in welcher Gesellschaft wir leben wollen. Wer das Wir sein kann. Und was uns Europa dabei wert ist.