Das Recht ist überall und manchmal nirgends. Bei allem, was wir tun oder lassen, haben wir vielleicht schon Vorschriften beachtet oder übertreten, sie ignoriert oder an ihrem Bestehen mitgewirkt. Gerade in Deutschland ist die Unübersichtlichkeit des Rechtswesens groß. Das kann nerven. Auf der anderen Seite hat jeder schon versucht, sein Recht zu bekommen, oder was er oder sie dafür hält. Und dann sind wir schnell dabei, uns auf Gesetze zu berufen, beziehungsweise auf unsere Auslegung davon. Die Betrachtung des Rechts bietet uns einen Blick in den Maschinenraum der jeweiligen Gesellschaft. Oder besser in deren Betriebssystem und dessen Code. Nicht umsonst ist die ältere Bedeutung von Code – Gesetzbuch.

So allgegenwärtig es ist, so systemimmanent ist dem Recht die eigene Unvollständigkeit und Widersprüchlichkeit. Es ist ein halboffenes System, auch wenn seine Vertreter immer wieder so tun, als sei es ein wohlgeordnetes Ganzes, das nur der einzelne Streit in Unordnung zu bringen versucht. Aber jedem Gesetz ist auch seine Gesetzeslücke eingeschrieben. Jede Rechtsprechung hat ihren Einspruch. Die Streitbarkeit und die Fehlstellen des Rechts sind Ansätze seiner Öffnung für neue Regelungen. Denn auch das Recht folgt der Entwicklungsdynamik des sozialen Lebens, und es prägt sie gleichzeitig. Wenn die digitalen Medientechnologien das herkömmliche Urheberrecht infrage stellen, geraten Rechtssetzung, Rechtsempfinden und Rechtsprechung in einen Widerspruch, der politisch wird. Im Einwanderungsland Deutschland kann die Bewertung der islamischen Rechtstradition eine Alltagsfrage werden und Gerichte beschäftigen. Brüssel ist weit, aber das europäische Recht gilt auch in der deutschen Provinz und stellt das hiesige System des Strafvollzugs vor Probleme. Auch nach innen bewegt sich das Recht weg vom nationalstaatlichen Monopol. Mit Mediationsverfahren kommen zivilgesellschaftliche Kulturtechniken zum Tragen. Und ob andere Lebewesen oder gar Maschinen ein eigenes Recht haben können, wird bald mehr als nur eine spekulative Frage der Rechtstheorie sein.

Im demokratischen Rechtsstaat hat das Recht neben seiner klassischen Funktion der Herrschaftssicherung auch eine der wirksamen Kontrolle von Macht. Dann wird etwas so Profanes wie ein Verwaltungsgericht zur Instanz, in der die Bürger gegen den vermeintlich übermächtigen Staat ihr Recht einklagen und erhalten können. In der DDR und anderen Diktaturen hatte der Einzelne gegen die Exekutive kein Recht geltend zu machen, war beziehungsweise ist er auf ihre Gnadenakte angewiesen und kann sich meistens auf die Ungnade der Übermacht verlassen. Das heutige rechtsstaatliche System der Checks and Balances, das uns ein historisch kaum dagewesenes Maß an Gerechtigkeit bietet, ist auch in Deutschland nicht vom Himmel gefallen. Die Väter und Mütter des Grundgesetzes haben die Wucht der historischen Katastrophe genutzt und uns eine Verfassung geschrieben, deren Kraft auch aus dem klaren Pathos ihres Versprechens kommt, dem eines Lebens in Würde und Freiheit für alle. Dieses Rechtssystem ist ein wertvolles Gut. Es wird im Streit geboren, und sein Bestehen muss immer wieder neu erstritten werden.