Mitten in der Nacht wird Rhythm Gupta zum Teil der größten biometrischen Datenbank der Welt. Um 0.30 Uhr erhält der 24-Jährige die Nachricht per Handy, seine „Aadhaar-Nummer“ sei nun fertig. Ein paar Wochen zuvor hatte Gupta seine Iris scannen und Fingerabdrücke nehmen lassen. Aadhaar, was so viel wie Gründung und Unterstützung bedeutet, ist eine zwölfstellige Nummer, die in Indien jedem einzelnen Menschen, der dort seinen festen Wohnsitz hat, zugeteilt werden kann. Gekoppelt an biometrische Daten dient sie der Identifikation eines jeden Bürgers und soll zukünftig die Verwaltung in der indischen Gesellschaft vereinfachen und gerechter machen.

Aadhaar ist immer noch freiwillig, doch die Regierung sorgt mehr und mehr dafür, dass ohne Identifikationsnummer kaum noch etwas geht. Bei der Steuerabrechnung, beim Eröffnen eines Bankkontos, bei der Beantragung von Sozialleistungen, Lebensmittelrationen oder eines Führerscheins und sogar beim Kauf einer SIM-Karte – immer muss man mittlerweile seine Aadhaar-Nummer angeben. Und jede Handlung und Transaktion, die eine Person mit der Aadhaar-Nummer durchführt, wird unter dieser Nummer in einer digitalen Datenbank zentral gespeichert. Jeder Einwohner wäre also künftig per Nummer identifizierbar.

Wer keine Nummer hat, kriegt auch kein Geld vom Staat

Ein ambitioniertes Projekt, an dem Dutzende private Tech-Firmen beteiligt sind, geleitet und autorisiert durch den Staat. Für Datenschützer ist Aadhaar ein Horrorszenario, denn sie sehen in dem System den Türöffner zur absoluten Überwachung der Bürger durch den Staat. Deswegen hat der 24-jährige Computerwissenschaftler Gupta es bis vor kurzem abgelehnt, eine Aadhaar-Nummer zu beantragen: „Das System hat nicht nur gute Seiten.”

Indiens Ministerpräsident Narendra Modi verspricht mehr Kontrolle und mehr Schutz vor Betrug und Korruption, zugleich die Inklusion armer Bevölkerungsteile. Andererseits: Wer nicht im Aadhaar-System registriert ist, dem wird nach und nach der Zugang zu staatlichen Zuwendungen gekappt. 

Zentralisierung, das klingt nach Ordnung. Mit Aadhaar sollen Daten zusammengeführt werden, die vorher von Unternehmen und politischen Institutionen doppelt, dreifach oder gar nicht erfasst wurden. Ein Land wie Indien, mit seinen rund 1,3 Milliarden Einwohnern, braucht Struktur. Die Digitalisierung der Gesellschaft soll das alte System revolutionieren, denn vieles läuft in Indien über Mittelsmänner – was in den vergangenen Jahrzehnten die Korruption hat wachsen lassen. Ein Bauer etwa verkauft seine Ernte nicht direkt an den Abnehmer, sondern verhandelt mit staatlich lizenzierten Mittelsmännern. Auch den Zugang zu vielen Informationen und Sozialleistungen hat er nur über den Dorfvorsitzenden – ein Einfallstor für ungeregelte Forderungen und Geldzahlungen als Gefälligkeit.

Studien haben gezeigt, dass oft weniger als 50 Prozent der Sozialgelder und Lebensmittelrationen tatsächlich bei denen ankommen, die sie benötigen. Der Rest geht unterwegs verloren, bei Mittelsmännern und Behörden. Als Lösung gegen die Misswirtschaft präsentierte der Unternehmer Nandan Nilekani die zentrale Datenbank, 2009 wurde das Projekt in Angriff genommen. Von der Erhebungsbehörde UIDAI (Unique Identification Authority of India), der Nilekani vorsaß, wurde Aadhaar als Projekt zur Unterstützung der Armen angekündigt.

  

Die Idee: Ein digitaler Fußabdruck soll Identitätsbetrug, etwa bei der Beantragung oder Veruntreuung von Sozialgeldern, unmöglich machen. Denn Namen kann man fälschen, Ausweise, Adressen, Geburtsdaten und Urkunden ebenso. Ein digitaler Fingerabdruck dagegen sei sicher, argumentierte die UIDAI, schließlich arbeiten Sicherheitsbehörden nicht anders. Seit dem Jahr 2011 bekommen Inder nun in improvisierten Meldestellen eine Art Virtual-Reality-Brille aufgesetzt, mit der die Iris beider Augen gescannt wird. Riesige Pupillen erscheinen auf dem Bildschirm, es folgen Gesichtsfotos und die Abdrücke aller zehn Finger – und schon ist aus dem Bürger oder der Bürgerin eine Aadhaar-Nummer geworden. 99 Prozent der Inder über 18 Jahre hätten mittlerweile eine Aadhaar-Nummer, lässt UIDAI verlauten. Genaue Daten veröffentlicht die Behörde nicht.

Niemand braucht mehr eine Unterschrift oder PIN – mit dem Daumen können sich  Personen „ausweisen“

Indiens Ministerpräsident Narendra Modi macht viel Werbung für die neue digitale Gesellschaft Indiens. „Digital India“ sei die Zukunft, sagt er und berichtet auf seinen Social-Media-Kanälen von großen Erfolgen. Nicht nur politisch, auch finanziell hat der Staat Milliarden in die Digitalisierung gepumpt – für den Zeitraum 2009 bis 2017 sind allein 136 Milliarden Rupien, knapp 1,18 Milliarden Euro, für Aadhaar eingeplant. Eine große PR-Kampagne soll das Projekt schon jetzt wie einen Erfolg aussehen lassen. 

Nicht nur habe Indien neun Milliarden Dollar (umgerechnet acht Milliarden Euro) dadurch gespart, dass es dank Aadhaar zu weniger Betrug und Behördenfehlern gekommen sei, verkündete Unternehmer Nilekani im Oktober in Delhi. Auch die Armen hätten profitiert: Niemand braucht noch eine Unterschrift oder eine PIN-Nummer, um seine monatliche Ration vom Staat abzuholen – mit dem Daumen können sich auch Personen „ausweisen“, die nicht lesen oder schreiben können.

Doch genau dies sei einer der Fehlschlüsse, kritisiert Usha Ramanathan: „Zum einen sind die Fingerabdrücke der Bauern und Arbeiter oft nicht lesbar, außerdem können auch biometrische Daten gefälscht werden.“ Die Juristin und Aktivistin aus Delhi kämpft seit Jahren für mehr Aufklärung und gegen eine Ausweitung des UIDAI-Systems. Sie kritisiert den Zugewinn von Macht durch Big Data. Administrator der riesigen Datenbank ist der Staat – und der könnte seine Bürger anhand der gesammelten Daten eingehend analysieren: Shoppinginteressen, Krankheiten, Bewegungsprofile, Schlafgewohnheiten, Arbeitszeiten und Gehalt, Bankersparnisse und Netzwerke, Kreditwürdigkeit und vieles mehr. „Aadhaar ist ein Instrument, das Profiling und Massenüberwachung fördert“, warnt Usha Ramanathan.

Noch weiter geht der Jurist Sajan Poovayya. Gefährlich werde es, wenn man bestimmten Menschen politisch etwas zuschreibe, wenn Menschen aufgrund ihrer Herkunft und Religion gefiltert, überwacht und benachteiligt werden. Seine Bedenken beziehen sich auf die politischen Entwicklungen Indiens, seit Narendra Modi im Amt ist: Der propagiert klar eine hindunationalistische Linie – Andersdenkende und Kritiker werden oft ignoriert oder eingeschüchtert. Das hat zu einer aufgeheizten Stimmung in der indischen Gesellschaft geführt. Erst im September wurde die regimekritische Journalistin Gauri Lankesh vor ihrem Haus ermordet.

Jurist Poovayya hofft, dass Indien nicht den Weg Chinas beschreiten wird. Dort soll ab 2020 ein sogenanntes Sozialkredit-System eingeführt werden, das jeden Bürger aufgrund seines Verhaltens, seiner Bewegungs- und Einkaufsprofile in einer offiziellen Rangordnung einstuft. Der Bürger kann sich durch sein individuelles Ranking dann bestimmte Vorteile verschaffen oder aber sich Nachteile einhandeln: Wer sich gemäß den Regeln verhält, bekommt etwa Zugang zu mehr staatlichen Leistungen – wer hingegen weniger dem Idealbild entspricht, erhält ein niedrigeres Ranking, verliert so vielleicht den Zugang zu Schulen, begehrten Jobs und Versicherungen und muss sich regelmäßigen Kontrollen unterziehen. Um ein solches Szenario für Indien zu verhindern, hofft Poovayya auf die Justiz. Die solle die Privatsphäre stärker schützen als in China.

Wird der Staat Personen, die sich in sozialen Netzwerken, in SMS oder Mails kritisch äußern, in Zukunft womöglich stärker überwachen?

Die digitale Infrastruktur für ein solches System der Gängelung und Erziehung seiner Bürger hätte Indien allerdings schon geschaffen. Der riesige Datenschatz könnte zum politischen Instrument werden: Wird der Staat Personen, die sich in sozialen Netzwerken, in SMS oder Mails kritisch äußern, in Zukunft womöglich stärker überwachen? Können einem Aufenthaltsorte und Kontakte, die dem Staat verdächtig erscheinen, gefährlich werden? Auch mit dem Thema Cybersecurity müsse man sich befassen, mahnt Poovayya: Was passiert, wenn Datenbanken gehackt werden?

Die Möglichkeit, auf diesem Wege Identitäten zu fälschen, besteht. Ebenso die Gefahr, dass missliebigen politischen Gegnern Taten zugeschrieben werden, die sie nie begangen haben. „Ich habe als Bürger selbst keine Möglichkeit, an meine gespeicherten biometrischen Daten zu gelangen“, sagt Usha Ramanathan.

„Es hat schon Leaks gegeben, bei denen Daten von Tausenden Indern plötzlich öffentlich online standen“, sagt Rhythm Gupta. Private Hacker könnten sich einen Spaß daraus machen, was aber ist mit Unternehmen? Große Firmen wie IBM und der indische Tech-Gigant Infosys sind am „Digital India“-Projekt beteiligt. „In einem der ersten UIDAI-Papiere stand, dass die Daten verkauft werden sollen“, so Gupta. Und obwohl der junge Tech-Unternehmer die Digitalisierung durchaus sinnvoll findet, ist das System seines Erachtens nicht sicher genug: „Dass Fremde an meine Daten kommen können, ist meine große Sorge.“

Titelbild: RUTH FREMSON/NYT/Redux/laif