Die Stadtbevölkerung rebelliert, weil trotz Wohnungsnot keine neuen Häuser, sondern ein neues Kraftwerk gebaut wird. Die Ernteerträge stagnieren. Und der Geheimdienst vermeldet: Amerika hat ein paar Machenschaften Russlands verraten. Spätestens in diesem Augenblick scheinen Realität und Spiel zu verschmelzen. Die Realität, so wie sie täglich in den Nachrichten zu sehen ist, und das Spiel: Civilization VI.

Seit diesem Herbst ist das sechste Civ da. An der Gesamtlogik hat sich erfreulich wenig geändert. Die Armeen und Ingenieure bewegen, den Städten Bauaufträge zuweisen, neue Kontinente entdecken, mit den anderen Staatschefs paktieren oder Intrigen schmieden, mit Missionaren seine eigene Religion verbreiten, all das steht Runde für Runde an.

Civilazation

Civilazation

Politiker mit Weltformat: Unter Mvemba á Nzinga entwickelt sich der Kongo zu einer führenden Nation

Kaum eine Computerspiel-Reihe ist so genreprägend wie dieses Globalstrategiespiel. Es geht ums große Ganze. Als Alleinherrscher beginnt der Spieler 4000 v. Chr. seinen Weg durch eine ihm völlig unbekannte Welt. Bis er irgendwann in den Weltraum fliegt, wird er das Rad erfinden, bei den Vereinten Nationen vorsprechen oder seinen Nachbarstaat dazu nötigen, wie er buddhistisch zu werden. Er wird als Gandhi England überrennen oder als Dschingis Khan die kleine, wissenschaftlich fortschrittliche Mongolei anführen, deren Hauptstadt sich an ihrem schönen Eiffelturm erfreut. Denn die Anführer, Nationen und Weltwunder im Spiel sind real, aber ihre Aufteilung wird ebenso wie ihr Schicksal in jeder Partie neu ermittelt. So kann es beispielsweise passieren, dass der Kongo sich mit den USA um die Weltherrschaft streitet, die gerade bei Washington das Ruhrgebiet errichtet haben und nun wirtschaftlich aufblühen. 

Civilazation

Civilazation

Die Mbanza waren Städte und Ortschaften im Kongo, die entstanden, bevor sich der europäische Einfluss etablierte. Als diese Städte wuchsen, breiteten sich dort handwerkliche Berufe stark aus und Handwerker wurden zur herrschenden Klasse.

Das Faszinierende an „Civilization VI“ ist die Möglichkeit, spielerisch der großen Frage nachzugehen: Warum sind manche Staaten erfolgreich, andere aber nicht? Dabei verbindet das Spiel geschickt zwei gängige Denkschulen miteinander. Einerseits haben Nationen und ihre Anführer bestimmte unveränderbare Eigenschaften. So errichtet etwa Friedrich Barbarossa schneller Industriebezirke. Der Kongo unter Mvemba a Nzinga dagegen profitiert besonders von Relikten und Artefakten, die seine Archäologen in aller Welt ausgraben.

Würde der gewaltlose Gandhi Atombomben werfen?

Andererseits folgt das Spiel dem Geodeterminismus. Du wirst als Volk von deiner geografischen Position bestimmt, könnte diese Lehre grob vereinfacht zusammengefasst werden. Unter anderem der Harvard-Anthropologe Jared Diamond vertritt diese These in seinen weltweit beachteten Büchern, die einen klugen Kontrapunkt zu allen rassistischen Erklärungsmustern bilden. Wer in „Civ VI“ in der Wüste oder im Eis beginnt, wird nur schwer zur bevölkerungsreichsten Nation auf Erden. Die Realität lässt wieder grüßen.

Nicht alle Eigenschaften der großen Anführer erscheinen logisch. So ist etwa Gandhi zwar grundsätzlich pazifistisch eingestellt, hat aber beim roten Knopf für die Atomwaffen ein eher lockeres Händchen. Gandhi hat wohl tatsächlich einmal gesagt, dass er die Bombe gegen die kolonialistischen Engländer einsetzen würde, wenn er sie hätte. Allerdings ist dieser Satz aus dem Zusammenhang gerissen. Er stammt aus einer Rede, in welcher der Freiheitsheld Indiens später betont, dass am gewaltlosen Widerstand schlussendlich kein Weg vorbei führt. Andere Quellen gehen davon aus, dass schlichtweg ein Programmierfehler für Gandhis Begeisterung für die Bombe in „Civ“ verantwortlich ist.

Diskussionen zu „Civilization“ gibt es seit dem ersten pixeligen „Civ“ im Jahr 1991. In einem der wohl am meisten kommentierten Forumsbeiträge der Internetgeschichte beschreibt Nutzer Lycerius auf reddit.com, wie er in zehn Jahren Spiel (sic!) eine „Civilization-II“-Welt in einen nie endenden nuklearen Albtraum verwandelt hat. Drei verbliebene Nationen befinden sich in einem epischen Krieg gegeneinander. Alle Ressourcen werden darauf verwendet, nuklearen Fallout zu beseitigen – und neue Atomwaffen zu bauen, neue Armeen aufzustellen. In den mehr als 1.600 Antworten auf diesen Post mehren sich irgendwann die Stimmen, die Lycerius den einzig denkbaren Ausweg aus dem nuklearen Nirwana weisen: die freiwillige Niederlage, also die Selbstaufgabe einer Nation zugunsten der Welt. Wäre so etwas in der realen Welt denkbar?

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Gandhi

Gaststar aus der Weltgeschichte: Auch Gandhi kann man spielen, nur dass der eine historisch unzureichend belegte Vorliebe für Atomwaffen hat

Die sechs Versionen von „Civilization“ spiegeln den jeweiligen Zeitgeist wider. In „Civ III“ gab es noch den politisch höchst unkorrekten Sklavenjäger. Das war 2001. In den früheren Versionen war es auch noch clever, einfach größer zu sein als der Gegner, schneller zu bauen, mehr zu produzieren. Schon in „Civ V,“ erschienen 2010, wurde es möglich, mit einer kleinen, wissensbasierten Nation zu siegen. Die Immer-mehr-Logik des Kapitalismus alter Prägung wurde im Spiel also in etwa zur gleichen Zeit in den Hintergrund gedrängt, ab der sie auch in vielen westlichen Gesellschaften im Zuge der weltweiten Finanzkrise immer deutlicher hinterfragt wurde.

Sieg durch Kultur: Der kongolesische Maler Gustav Klimt zieht mit seinen Bildern Touristen aus der ganzen Welt an

Auch in „Civ VI“ ist neben einem militärischen Sieg beispielsweise der kulturelle eine wegweisende Option. So kann der Kongo gegen die wirtschaftlich überlegene USA bereits im Jahr 1909 den Kultursieg davontragen. Diesen holt bei „Civ VI“, wer mehr Touristen als alle anderen Nationen  anlockt. Der entscheidende kulturelle Beitrag ist die Geburt des kongolesischen Malers Gustav Klimt, der das Bild „Der Kuss“ malt – und damit die Touristen weltweit endgültig entzückt.

Die Realität und das Spiel werden allerdings immer von der Idee eines finalen Sieges entzweit werden. Während in der Gegenwart zumindest der Denkansatz existiert, nachhaltig und nachbarschaftlich zu wirtschaften, anstatt die anderen Nationen zu übertrumpfen, gelingt dies im Spiel nur schwer. Gnade für Pixel zeigen? Ein Computerspiel spielen, ohne gewinnen zu wollen? Nicht unmöglich, aber schwierig. Das allerdings gilt viel zu häufig auch für die Realität.