RATATATAT – das sind die Salven des „IS“. TUM TUM TUM – das sind die Geschütze der Kurden. BOOM – das sind die Bomben der Amerikaner, aber nur, wenn danach MG-Salven abgefeuert werden. Wenn nicht, dann war es doch der „IS“. Das lernt Zerocalcare eines Nachts an der syrischen Grenze von einem alten Kurden, als der Kampf um die Stadt Kobane gerade in vollem Gange ist.

Zweimal reist der Italiener dorthin. Dem Krieg kommt er dabei manchmal näher, als es seinen Nerven guttut. Zerocalcare ist nämlich kein mit allen Wassern gewaschener Kriegsreporter, der regelmäßig von den Krisenherden dieser Welt berichtet, sondern ein etwas neurotischer Comiczeichner aus einem Vorort von Rom.

Mit seinem Band „Kobane Calling“ feiert der 33-Jährige in seiner Heimat einen riesigen Erfolg. Bereits über 100.000 Mal wurde der Band verkauft. Das ist gut zehnmal mehr als üblich bei Graphic Novels. Übersetzt wurde er ins Englische, Deutsche und Niederländische. Auch das ungewöhnlich. So wie das ganze Buch.

Kobane Calling

Geflasht vom Gesellschaftsvertrag

„Kobane Calling“ ist nämlich keine klassische Comic-Reportage. Sind die Bände von anderen Comiczeichnern wie Joe Sacco, Guy Delisle und Sarah Glidden von einem klassischen Journalismus geprägt, so ist Zerocalcares Reisebericht eine sehr persönliche Auseinandersetzung mit Rojava und dem gesellschaftlichen Experiment, das sich seit ein paar Jahren im Norden Syriens vollzieht: In einem schriftlich fixierten Gesellschaftsvertrag hat sich das de facto selbstverwaltete, aber völkerrechtlich nicht anerkannte kurdische Autonomiegebiet ein paar Regeln auferlegt, die ziemlich fortschrittlich sind, wenn sie denn tatsächlich so umgesetzt werden: Basisdemokratie, Religionsfreiheit, Umweltschutz und Gleichstellung der Geschlechter.

Eigentlich kam Zerocalcare gar nicht, um zu berichten, sondern um zu helfen. Als Teil einer Soli-Gruppe reist er 2014 ins türkische Grenzgebiet, schnürt Hilfspakete für Flüchtlinge und ist fasziniert von dem gesellschaftlichen Aufbruch. Im Juli 2015 reist er dann auf die syrische Seite. Da war die Schlacht um Kobane gerade gewonnen. Besonders beeindruckt hat Zerocalcare die Stellung der Frauen. Die Ausbilderinnen der YPJ etwa, der Fraueneinheiten der kurdischen Milizen, hätten eine Menschlichkeit, die man im Militär sonst wohl nirgends finden würde. Dass abseits des Krieges so wenig über den gesellschaftlichen Umbruch in Rojava berichtet wird, ärgert ihn.

Endkampf um die Menschlichkeit

Ein politischer Mensch ist Zerocalcare ohnehin. Schon als Jugendlicher geht er in den autonomen Zentren seiner Heimatstadt Rom ein und aus und lebt als Straight-Edge-Punk, verzichtet also auf Alkohol, Zigaretten und Drogen. Die Tötung des Demonstranten Carlo Giuliani bei den G8-Protesten in Genua 2001 durch die Polizei ist für ihn ein Erweckungserlebnis. Und in der Schlacht um Kobane sieht er einen Endkampf um die Menschlichkeit.

Seine ganze Sympathie gilt entsprechend dem Schicksal der Kurden. Das sieht man auf jeder Seite seines 272 Seiten starken Bandes. Er versucht erst gar nicht, die Rolle des neutralen Beobachters einzunehmen. Auch nicht, als er die PKK-Einheiten in den Bergen von Kandil im Irak besucht. Gegen die PKK stehen ja viele Vorwürfe im Raum: die autoritäre Vergangenheit der kurdischen Arbeiterpartei etwa, die Exekution von Abtrünnigen aus den eigenen Reihen, die Verstrickungen in den Drogenhandel, die Kindersoldaten. Nicht immer ist die Sachlage klar, aber die Liste der Anschuldigungen ist lang. Von vielen Staaten – der Türkei sowieso, aber auch der EU – wird die PKK als terroristische Vereinigung eingestuft. Auch gegen die PYD und YPG, die herrschende Partei in Rojava und die Volksverteidigungseinheiten werden von Menschenrechtsorganisationen wie Amnesty International oder Human Rights Watch Vorwürfe erhoben.

Kobane Calling

Linksromantisch, aber nicht kitschig

Zerocalcare verschweigt das nicht, und er fragt auch nach. Vor allem aber erzählt er, wie schwierig es ist, sich von der Lage vor Ort ein Bild zu machen. Dadurch bekommt die Geschichte eine besondere Authentizität. Sie erinnert daran, wie kompliziert es ist, in umkämpften Regionen an verlässliche Informationen zu kommen. Der Krieg ist auch immer ein Krieg der Informationen. Erst recht, wenn sich so viele Milizen gegenüberstehen wie im umkämpften Norden von Syrien.

Dass der Comic trotz des ernsten Themas mitreißend und sogar manchmal lustig ist, ist Zerocalcares anarchischem Erzählstil zu verdanken. Gerade weil er seine eigenen Ängste und Vorurteile oft ins Groteske verzerrt, schlittert „Kobane Calling“ bei aller linken Romantik nie in einen Polit-Aktivisten-Kitsch.

An Überzeugung mangelt es Zerocalcare indes nicht. Einen Teil der Einnahmen aus dem Buch spendet er an Solidaritätsinitiativen für die Kurden.

Zerocalcare: „Kobane Calling“, Avant-Verlag, Berlin 2017, aus dem Italienischen von Carola Köhler, 272 Seiten, 24,95 Euro