Über eine Milliarde Menschen, 1.087.000.000: So viele Bewohner der Erde reisten 2013 in ein anderes Land. Ob von Deutschland nach Spanien, von Venezuela nach Kuba, von Korea nach Australien – Nie zuvor waren so viele Touris ten unterwegs. Und weil sie immer mehr werden und alle essen, trinken, schlafen müssen, wächst kaum ein anderer Wirtschaftszweig so schnell wie die Reisebranche. Das Reisen an sich ist gar nicht so neu. Seit Jahrhunderten pilgern Gläubige zu den Stätten, die ihnen heilig sind: Muslime nach Mekka, Christen zu Wall fahrtsorten wie Assisi in Italien oder natürlich auch Rom, Buddhisten nach Lumbini. Doch die Pilger reise war etwas, das man nur ein mal im Leben machte. Zu lang und zu beschwerlich war der Weg. Um die Strapazen einer Reise auf sich zu nehmen, musste man schon sehr gläubig sein. Die meisten gingen zu Fuß – ein anderes Fortbewe gungsmittel konnten sie sich gar nicht leisten. Auch in der Kutsche fuhr man später alles andere als bequem. Selbst wenn die Sitzbänke gepols tert waren: Die Holzräder waren es nicht.

Noch Ende des 18. Jahr hunderts, zu Mozarts Zeiten, dau erte eine Fahrt von München nach Frankfurt 74 Stunden, 116 Stunden die Reise von Berlin nach Wien. Die Erfindung des Dampfschiffs und der Eisenbahn änderte das – und die Erfindungsgabe eines englischen Geistlichen. Denn Thomas Cook, ein baptistischer Laienprediger und Antialkoholiker, hatte eine Mission. Sein Ziel war ziemlich profan: Cook wollte Arbeiter vom Trinken abhalten. Wer an die frische Luft fährt, so seine Idee, kippt nicht in düsteren Spelunken Fusel. Also organisierte er im Jahr 1841 per Handzettel für mehr als 500 Leute eine Zugfahrt mit Blasmusik, Tee und Schnittchen, zum Festpreis von einem Schilling. Zwar war das Ziel der Reise, eine rund 20 Kilometer entfernte Kleinstadt, ähnlich grau und trostlos.

Aber immerhin: Zwei Stunden lang war man, so hoffte Cook, Gott näher als der Flasche. Die erste Pauschalreise der Ge schichte – wenn auch noch ohne Übernachtung – wurde ein Erfolg. Und Thomas Cook mit seinem Reise unternehmen ein reicher Mann. Der Reisescheck, die Flusskreuz fahrt, der Reisekatalog, die touristische Weltreise: alles Cooks Erfindungen. 50 Jahre später, 1891, revo lutionierte ein Deutscher den Tourismus zur See. Albert Ballin, ein Hamburger Kaufmann und Ree der, handelte nicht mit Gewürzen, nicht mit Kaffee, nicht mit Fisch. Ballin handelte mit Hoffnung und manchmal auch mit Glück: Ballin, ein Freund des deutschen Kaisers, leitete die Schifffahrtslinie Hapag, seine Schiffe brachten Emigranten über den Ozean. Zu Hunderttausenden wanderten Europäer ab Mitte des 19. Jahrhunderts in die USA aus. Weil ihre Fahrt vielfach in Hamburg begann, galt die Stadt als „Hafen der Träume“. So wurde Ballins Hapag zur größten Reederei der Welt.

Doch Ballin war nicht nur der Exporteur hoffnungsfroher verarm ter Emigranten. Ihn ärgerte, dass Nordatlantikquerungen im Winter nicht ausreichend nachgefragt wur den, und er fasste einen Entschluss. An einem stürmischen Januartag 1891 ließ er die „Augusta Victoria“ nicht auf besse res Wetter warten, sondern schickte das Schiff auf eine Kreuzfahrt ins Mittelmeer. An Bord: knapp 250 vornehme Damen und Herren, die es sich leisten konnten. Ein Dutzend Ziele steuerten sie an, und auch diverse Ausflüge standen auf dem Programm – sogar zu den Pyramiden in Ägypten. Die Reise gilt als erste Meereskreuzfahrt der Geschichte. Doch zunächst blieb das Verreisen zum Vergnügen ein Privileg der Reichen. Es sollte noch Jahrzehnte dauern, bis Urlaub in breiten Gesellschaftsschichten üblich wurde. Denn um zu reisen, benötigt man zwei Dinge: Zeit und Geld.

Die meisten Menschen im 19. Jahrhundert hatten von beidem zu wenig. 80 Stunden Arbeit pro Woche galten mal als normal – noch in der Weimarer Republik gab es höchstens drei Urlaubstage Nie schufteten Arbeiter länger als zu den Hochzeiten der Industrialisierung, als überall Stahl fabriken wuchsen. 80 Stunden pro Woche galten um 1850 durchaus als normal. Bis zum Ende der Weimarer Republik hatten die meisten Ar beiter Anspruch auf höchstens drei Urlaubstage im Jahr. Mehr als ein Wochenendausflug war da nicht drin. Das änderte sich in den 20er Jahren, als die Gewerkschaften anfingen, für ihre Mitglieder Pau schalreisen zu organisieren. Als die Nationalsozialisten an die Macht kamen, gründeten sie die Or ganisation „Kraft durch Freude“, eine Art staatlicher Reiseveran stalter. Die arischen Arbeiter sollten bei Laune gehalten und „gleichgeschaltet“ werden, also offerierte man ihnen billige Kurzausflüge, gleichzeitig bot die massenhafte Verschickung von Menschen die Möglichkeit, Logistik und Organisation für den Krieg zu erproben. 20.000 Menschen sollten sich zum Beispiel im Seebad Prora auf Rügen erholen können. Doch noch bevor der grotesk große, 4,5 Kilometer lange Gebäudekomplex an der Ostseeküste fertig wurde, begann der Krieg, und die Bauar beiter wurden abgezogen. Nun schufteten hier Zwangsarbeiter am provisorischen Ausbau. Nach dem Krieg war in Deutsch land an Urlaub kaum zu denken. Erst das Wirtschaftswunder bescherte dann vielen Familien in der BRD ein Auto, das Einkommen wuchs. Gewerkschaften kämpften für kürzere Arbeitszeiten und mehr freie Tage. Mit Erfolg. In den 50ern ist noch Ruhpolding in Bayern das Traumziel, dann folgt schon Italien. 1971 fliegt zum ersten Mal ein gecharterter JumboJet nach Mallorca. Heute reisen rund drei Viertel aller Deutschen. Allerdings nutzen nicht alle die Möglichkeit, individuell zu verreisen. Versandunternehmen wie Neckermann, die bis dahin Fernseher und Sommerkleider anboten, begannen schon in den 60ern, Pauschalreisen nach Tunesien oder Spanien zu offerieren. Mancher Ort war auf einen derartigen Ansturm von deutschen Touristen noch nicht vorbereitet. Verstreut hätten die Urlauber vielleicht in einer Stadt wohnen können, in kleinen Hotels, Pensionen, Privatwohnungen. Sie für Tagesausflüge einzusammeln hätte dann aber schon Stunden gedauert. Praktikabel war das nicht. Also baute man riesige Hotels an den Strand, Bettenburgen mit oft mehreren hundert Zimmern, eine neben der anderen. So entstand das Panorama, das man heute von vielen Touri-Orten kennt: blaues Meer, Sandstrand, Hochhaus. Auf Mallorca übernachteten im gesamten Jahr 1950 rund 100.000 Touristen. 2013 kamen fast 100-mal so viele: 9,5 Millionen. Seit Kurzem sind nicht mehr die Deutschen, sondern die Chinesen die Weltmeister im Reisen. 97 Millionen von ihnen zogen 2013 in die Welt hinaus und kehrten mit Erfahrungen wieder. Verglichen mit der Einwohnerzahl des Landes ist das zwar wenig. Doch auch in China wird in den nächsten Jahren die Mittelschicht wachsen, und immer mehr werden sich eine Reise leis ten können. Bis zur zweiten Milliarde Touristen ist es also nicht mehr weit.