Buch

Jeffrey Eugenides: Middlesex (2003)

„Singe jetzt, o Muse, die Geschichte der rezessiven Mutation auf meinem Chromosom fünf!“, lässt Jeffrey Eugenides den Ich-Erzähler in seinem Erfolgsroman „Middlesex“ homerisch raunen. Eugenides, Amerikaner mit teils griechischen Wurzeln, erzählt darin viel aus seiner Familiengeschichte, um das Leben seines Helden farbig zu grundieren. Dieser Held ist intersexuell, zweigeschlechtlich aufgrund eines seltenen Gendefekts. Er wird als Mädchen aufgezogen, entscheidet sich aber später, als Mann zu leben. Die Frage, was den Menschen als geschlechtliches Wesen vor allem bestimmt – die Gene oder die Umwelt –, zieht sich durch das Buch. Mit großem Erzählgestus kreuzt Eugenides seinen Gender-Bildungsroman mit einer groß aufgezogenen Familiensaga. Entsprechend dickleibig ist das Endprodukt ausgefallen, liest sich aber süffig weg. Übrigens spielt ein Teil der Rahmenerzählung in Berlin – vermutlich allein deshalb, weil der Autor damals dank eines Stipendiums dort lebte.

Aus dem Englischen von Eike Schönfeld. Rowohlt TB, 736 S., 10,99 Euro

Kazuo Ishiguro: Alles, was wir geben mussten (2005)

Alles könnte so schön sein in dem Internat, in dem Kathy, Tommy, Ruth und die anderen aufwachsen – aber nein, es könnte nicht nur, es ist sehr schön! Die Jugendlichen werden gut umsorgt, haben viele Möglichkeiten, Sport zu treiben und kreativ zu sein, alles ist toll. Da sie nichts anderes kennen, nehmen sie es als ihr natürliches Schicksal hin, „Spender“ zu sein: menschliche Ersatzteillager, geklont allein zu dem Zweck, sämtliche verwertbaren Organe zu spenden und an der finalen Spende noch in jungen Jahren zu sterben. Das klingt nach hartem Stoff, aber der britische Autor Kazuo Ishiguro hat alles andere als einen gruseligen Gentechnik-Schocker geschrieben. Eher ist sein Roman ein philosophisches Gedankenexperiment zur ewig unlösbaren Frage nach dem Sinn des Lebens und des Todes. Ein sanfter, traurig-schöner Hauch von Melancholie liegt über seinem Roman, in dem niemand seinem vorherbestimmten Schicksal entkommt. Denn nicht einmal die Liebe rettet vor dem sicheren Tod. Und das gilt schließlich nicht nur für Ishiguros Klonkinder, sondern für uns alle.

PS: Ja, dieser Roman wurde auch verfilmt, sogar mit Carey Mulligan und Keira Knightley in Hauptrollen, die Verfilmung stieß aber nicht auf einhellige Zustimmung bei der Kritik.

Aus dem Englischen von Barbara Schaden. btb, 352 S., 9,99 Euro

Comic 

Wolverine (1974)

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The Incredible Hulk #181 (Marvel Comics)

The Incredible Hulk #181: Der Superheld Wolverine ist mit seinen ausgeprägten Sinnen und Selbstheilungskräften einer der spektakulärsten unter den X-Men-Mutanten

(Marvel Comics)

Unter den genetisch außergewöhnlichen Figuren im Comic-Universum stechen besonders die X-Men-Mutanten hervor. Einer von ihnen ist der Superheld Wolverine, der als James Howlett mit animalisch ausgeprägten Sinnen und spektakulären Selbstheilungskräften im späten 19. Jahrhundert geboren wird. Seine Markenzeichen sind Klauen, die aus den Handrücken hervorschnellen und, gemäß der heutigen Ursprungsgeschichte, bereits in jungen Jahren zum Einsatz kommen. Zur Flucht aus seinem Elternhaus gezwungen, baut der zwischenzeitlich in der Wildnis lebende James seine Fähigkeiten aus, was ihn für das geheime Regierungsprogramm „Weapon X“ interessant macht. Dort verschmilzt man sein Skelett und seine Krallen mit dem unzerstörbaren Metall Adamantium und schafft so eine perfekte Kampfmaschine. Seinen ersten Auftritt hat der später zum X-Men-Team hinzustoßende Mutant 1974 im Marvel-Comic # 180 „The Incredible Hulk“. Spannend ist die Figur des Wolverine vor allem deshalb, weil sie den oftmals tragischen Außenseiterstatus von Menschen mit exzeptionellen Fertigkeiten unterstreicht und exemplarisch für all die Superhelden steht, die von eigennützigen Organisationen als Versuchskaninchen und Handlanger missbraucht werden.

Film

Ridley Scott: Blade Runner (1982)

Ursprünglich sollte dieser düster-geniale Science-Fiction-Klassiker, dessen erste Version 1982 in die Kinos kam, „Android“ heißen – nach Philip K. Dicks Roman „Träumen Androiden von elektrischen Schafen?“, der ihm zugrunde liegt. „Replikanten“ werden die Androiden im Film genannt. Sie sind gentechnisch hergestellte menschliche Klone, die erschaffen wurden, um für die Menschheit die Lebensbedingungen auf anderen Planeten zu testen. Das Betreten der Erde ist ihnen streng verboten; wer es dennoch wagt, wird verfolgt und liquidiert. Angeblich unterscheiden sich Replikanten darin von „echten“ Menschen, dass ihnen die Empathiefähigkeit fehlt. Diese Prämisse aber wird im Film immer wieder in Frage gestellt. Nicht nur verliebt sich (Harrison Ford als) Replikantenjäger Rick Deckard in eine Replikantin; auch sein übermenschlich starker Widersacher Roy erweist sich letztlich als „menschlicher“ als viele Menschen. Was also macht einen Menschen dann wirklich aus? Eine große Frage, auf die „Blade Runner“ eine letztgültige Antwort verweigert. Jahrtausendkino.

Andrew Niccol: Gattaca (1997)

die dna für gute geschichten

Gattaca (Foto: picture alliance/United Archives)

In „Gattaca“ erschafft die Medizin Menschen, die nur die besten genetischen Eigenschaften ihrer Eltern tragen. Und es entsteht eine Gesellschaft, in der nur solch makellos konstruierten Retortenbürger Aufstiegsmöglichkeiten haben

(Foto: picture alliance/United Archives)

„In einer nicht allzu fernen Zukunft“, wie es am Anfang heißt, kann die Medizin Menschen erschaffen, die lediglich die besten genetischen Eigenschaften ihrer Eltern tragen. Entstanden ist eine Gesellschaft, in der nur makellos konstruierte Retortenbürger Aufstiegsmöglichkeiten haben. Natürlich gezeugte Individuen wie Vincent Freeman (Ethan Hawke) müssen einfache Tätigkeiten verrichten, was den jungen Mann jedoch nicht davon abhält, seinem Traum zu folgen: Um Raumfahrer zu werden, erwirbt er verbotenerweise die genetische Identität eines künstlich ausgereiften, inzwischen aber gelähmten Sportlers. Andrew Niccols bedächtig erzählter Science-Fiction-Film zeigt in ausdrucksstarken Bildern, wohin der Glaube an den perfekten Menschen führen kann: Diskriminierung und Unterdrückung sind die Merkmale einer „schönen neuen Welt“, die heute, 20 Jahre später, immer realistischer erscheint.

Fotografie

Diane Arbus: Identical Twins, Roselle, N. J. (1967)

Das berühmteste Porträt von Diane Arbus ist das von Cathleen und Colleen Wade, beide damals sieben Jahre alt und nur wenige Minuten nacheinander zur Welt gekommen. Die eineiigen Zwillinge stehen nebeneinander, beide dunkles Kleid, helle Strümpfe, helles Haarband, exakt gleich frisiertes Haar. Man sucht förmlich den Unterschied zwischen den Mädchen mit den genetisch fast identischen Erbanlagen. Ihre extreme Ähnlichkeit wirkt unheimlich. Kein Wunder, dass Stanley Kubrick ebenfalls eineiige Zwillingsmädchen in seinem Horrorfilm-Klassiker „The Shining“ (1970) auftreten lässt. Weniger gut gefiel das Bild den Eltern der Zwillinge. Sie ließen die Verbreitung damals verbieten. Immer wieder wurde Arbus vorgeworfen, sie würde die Menschen bloßstellen, die sie fotografiert, darunter Hoch- und Kleinwüchsige, Menschen mit Downsyndrom. Nachts durchstreifte sie die Spelunken, Peepshows und Bordelle in New York und besuchte Nudistencamps, Leichenschauhäuser und psychiatrische Anstalten. Die Tochter aus gutem Hause war fasziniert von allem, was anders war. Normalität und Abweichung war ihr großes Thema. Nach ihrem Selbstmord 1971 wandelte sich der Blick auf ihr Werk. Viele der Porträtierten wurden nun als Wahlverwandtschaft der depressiven Fotografin gesehen.

Serie 

Orphan Black (seit 2003)

Die DNA für gute Geschichten

Orphan Black (Foto: picture alliance / AP Photo)

Eines Tages stellt Trickbetrügerin Sarah Manning fest, dass sie in einem Klon-Projekt entstanden ist und weltweit viele baugleiche „Schwestern“ hat – von denen schon einige getötet worden sind

(Foto: picture alliance / AP Photo)

Im Mittelpunkt der kanadischen TV-Serie steht die Trickbetrügerin Sarah Manning. Nachdem sie eine Frau, die ihre Doppelgängerin sein könnte, dabei beobachtet, wie sie sich vor einen einfahrenden Zug wirft, nimmt Sarah deren Identität an. Schon bald muss die junge Frau jedoch feststellen, dass sie einem Klon-Projekt entsprungen ist und über den Globus verteilt viele „Schwestern“ existieren. Als einige von ihnen getötet werden, stellt Sarah gemeinsam mit einer kleinen Gruppe von Leidensgenossinnen Nachforschungen an und gerät dabei immer wieder in große Gefahr. Dank eines hohen Tempos und unzähliger schockierender Wendungen reißt die Mischung aus Science-Fiction, Thriller und Horror den Zuschauer mit, schafft es aber auch, das Ringen der Klone um eine eigene Identität zu beleuchten. Immer wieder erstaunlich ist die Darbietung von Hauptdarstellerin Tatiana Maslany, die diversen Figuren über Mimik, Gestik und Verhalten eine individuelle Persönlichkeit verleiht.

Titelbild: Replikant Zhora in Blade Runner / Foto: Warner Bros. / via Getty