fluter.de: Zu allererst: Deniz Yücel ist seit Februar in Polizeigewahrsam und in Haft – wie geht es ihm?

Doris Akrap: Da ich ihn nicht besuchen und sprechen darf, kann ich nur wiedergeben, was seine Ehefrau und die Anwälte sagen: den Umständen entsprechend gut. Aber machen wir uns nichts vor, Deniz ist seit fünf Monaten in Einzelhaft, dreimal die Woche ist jemand bei ihm für etwa eine Stunde. Das ist furchtbar hart. Alle Beschwerden und Anträge, dass er mit anderen zusammengelegt wird, wurden bisher nicht beantwortet. Trotzdem berichten Familie und Anwälte, dass er seinen Humor nicht verloren hat. Das merkt man auch an den Texten, die er im Gefängnis seinen Anwälten diktiert – und das ist sehr wichtig. Denn bei aller Härte, die Deniz gerade zu spüren bekommt, sind die Vorwürfe gegen ihn und seine Inhaftierung einfach nur lächerlich. Und solange er das so sieht und sich darüber lustig machen kann, weiß ich, dass er okay ist.

„Er zeigte uns seinen Raucherfinger – der Fingernagel war nicht mal mehr bis zur Hälfte braun – und sagte: 'Gefängnis hat auch was Gutes' und lachte“

Sie waren in der Türkei, als noch nicht ganz klar war, ob er nach dem Polizeigewahrsam freigelassen wird oder ob es einen Haftbefehl geben wird. War das der letzte direkte Kontakt?

Am 28. Februar. Das war der Tag, an dem Deniz dem Staatsanwalt im Justizpalast von Istanbul vorgeführt wurde. Ich war dort mit Deniz‘ Frau, seinen Anwälten und einem Kollegen der WELT. Wir haben uns vor das Büro des Staatsanwalts gestellt, wo Deniz verhört werden sollte. Irgendwann kam er, umringt von sechs Polizisten. Es hat mir buchstäblich den Atem geraubt. Es war einerseits wunderbar, ihn heil und unversehrt zu sehen. Andererseits war es ein schrecklicher Moment, weil klar war, dass er gleich wieder weg sein würde. Die Polizisten haben uns ein paar Minuten mit ihm reden lassen, wir konnten ihn umarmen. Aber keiner von uns hat ein Wort rausgebracht. Es war Deniz, der als Erster diese surreale Situation auflöste. Er zeigte uns seinen Raucherfinger – der Fingernagel war nicht mal mehr bis zur Hälfte braun – und sagte: „Gefängnis hat auch was Gutes“ und lachte. Das ist Deniz. Dann wurden wir von den Sicherheitsbehörden freundlich gebeten, den Gang zu verlassen. Inzwischen waren aber weitere türkische Kollegen und Freunde, der deutsche Generalkonsul, Oppositionspolitiker gekommen. Alle zusammen haben wir zehn Stunden in dem riesigen Justizgebäude verbracht.

Deutsch-türkische Spannungen

Die diplomatischen Beziehungen zwischen Deutschland und der Türkei sind momentan äußerst angespannt. Im Frühjahr wollte der türkische Präsident Tayyip Erdoğan mit einem umstrittenen Verfassungsreferendum seinen politischen Einfluss weiter ausbauen und konnte es dann auch für sich entscheiden. Im Vorfeld hatten Auftrittsverbote für türkische Politiker in Deutschland für Streit und sogar Nazi-Vergleiche gesorgt: Erdoğan selbst hatte Bundeskanzlerin Merkel Nazi-Methoden vorgeworfen. Nachdem die türkische Regierung deutsche Abgeordnete daran gehindert hatte, deutsche Soldaten am Luftwaffenstützpunkt im türkischen Incirlik zu besuchen, beschloss der Bundestag, die Bundeswehr von dort abzuziehen. Auch zum Nato-Stützpunkt in Konya wurde den deutschen Parlamentariern der Zugang verwehrt. Die Bundesregierung kritisiert dieses Vorgehen von Präsident Erdoğan scharf, insbesondere aber die Missachtungen von Menschenrechten wie Presse- und Meinungsfreiheit.

Stunden, in denen Sie sehr zuversichtlich waren …

Ja, denn die Nachrichten, die wir aus dem Gerichtssaal bekamen, klangen gut. Staatsanwalt und Haftrichter befragten ihn fast ausschließlich zu seinen Texten. Es war keine Rede von Terrormitgliedschaft, Spionage oder Ähnlichem. Als dann gegen späten Abend verkündet wurde, dass es ein Hafturteil gibt und er ins Gefängnis muss, fühlte sich das an, als hätte mir jemand ein Beil ins Genick gejagt. Mir wurde schlagartig eiskalt und ich konnte mich nicht bewegen. Doch nach wenigen Sekunden war das weg. Ich musste funktionieren, meine Zeitung (Anm.: die taz) anrufen, berichten, Medien riefen an, wollten Interviews, vor dem Gebäude warteten Freunde, Journalisten, Oppositionspolitiker, denen wir jetzt erzählen mussten, was wir selbst noch gar nicht richtig verstanden hatten. Und so geht das seitdem quasi jeden Tag.

Emotional muss das extrem belastend sein, auch für Sie und seine Familie.

Ja und nein. Es ist natürlich alles der reine Wahnsinn, weil sich die Situation nicht beruhigt. Im Gegenteil, alle paar Tage gibt es neue Hiobsbotschaften seitens der türkischen Regierung. Als Erdoğan Deniz zum ersten Mal öffentlich erwähnte und als Agenten bezeichnete, war uns klar: Okay, es handelt sich hier nicht um ein dummes Missverständnis. Das ist alles so gewollt. Das war die Hölle. Nicht nur, aber auch um dieses Gefühl der Ohnmacht und der Hilflosigkeit zu überwinden, haben wir in Deutschland die Autokorsos veranstaltet. In Flörsheim, Deniz‘ Heimatstadt, fuhren nicht nur Journalisten und Freunde mit, sondern gefühlt die ganze Stadt. Deniz‘ Schwester hat den Korso organisiert, und der SPD-Bürgermeister stand auf der Straße und hat die Autos rausgewunken. Solche Momente sind wahnsinnig bewegend und geben sehr viel Kraft.

Wie arbeitet der „Freundeskreis Deniz Yücel“?

Die Mobilisierung läuft über unsere Facebook-Seite und Twitter. Aber natürlich auch über die Medien, die vorab und im Nachhinein über die Veranstaltungen berichten. Wir sind etwa 20 Freunde, ehemalige Kollegen und Weggefährten. Nachdem bekannt wurde, dass sich Deniz in Polizeigewahrsam befindet, haben wir uns in einer Kneipe in Berlin getroffen und überlegt, was wir tun können. Denn dass wir etwas tun müssen, war uns sofort klar. Und klar war uns auch, dass wir keine Schweigeminuten oder Mahnwachen veranstalten wollen. Da hat doch niemand mehr Lust drauf. Und das passt auch einfach nicht zu Deniz. Wir haben uns gefragt: Was würde Deniz machen? „Er würde Autokorso fahren wollen, wie immer“, witzelte jemand. Und dann haben wir innerhalb von zwölf Stunden den wahrscheinlich ersten politischen Autokorso Deutschlands organisiert. In allererster Linie machen wir das alles für Deniz. Damit er weiß, dass wir ihn nicht vergessen und damit er über uns lachen kann. Deshalb die Korsos, das Konzert vor dem Brandenburger Tor am Internationalen Tag der Pressefreiheit und die Lesungen, auf denen Prominente Deniz‘ Texte lesen. Das ist unsere Form von Demo. Es ist unser Weg, die Situation von Deniz und die Situation in der Türkei, die Einschränkung der Pressefreiheit, der Meinungsfreiheit, der Demokratie weiter in der Öffentlichkeit zu halten. Wir versuchen, dafür auch Leute zu gewinnen, die sonst nicht unbedingt auf Demos gehen. Es war uns von Anfang an wichtig, dass wir mit dem Hashtag #FreeDeniz auch alle anderen inhaftierten Journalisten in der Türkei meinen. Deniz ist kein Einzelfall, er ist einer von Tausenden. Wir machen das Ganze ja auch in der Hoffnung, diejenigen, die in der Türkei für Gerechtigkeit und Demokratie kämpfen, zumindest symbolisch zu unterstützen.

„Die Vorwürfe, die in der Türkei gegen Deniz erhoben werden, sind irre. Aber sie stehen in gewisser Weise gerade in einem weltweiten Trend“

Sie sind von Beruf Journalistin, also eine Beobachterin und Analystin, die nun mitten in eine politische Krise reingerutscht ist, die Sie absolut persönlich betrifft. Wie gehen Sie damit um?

Es ist ja nicht so, dass ich und die Kollegen von #FreeDeniz vorher unpolitische Menschen gewesen sind. Auch als Journalistin bin ich ja nie einfach nur Beobachterin – ist kein Journalist. Es ist sogar die Aufgabe des Journalismus, Empathie zu zeigen, wo Unrecht passiert. Aber klar, es ist natürlich was anderes, wenn auf einmal der beste Freund oder ein enger Bekannter zum politischen Gefangenen wird. Denn zum ersten Mal muss ich über die Situation eines Menschen sprechen, mit dem ich seit fast 30 Jahren über alles Mögliche spreche und auf dessen Einschätzung, dessen Meinung, dessen Humor ich mich immer verlassen konnte. Das hat Tayyip Erdoğan schon ganz richtig erkannt, dass wir schlafen gehen, aufstehen und an Deniz denken, wie er es in dem ZEIT-Interview formuliert hat. Aber es ist ja eben nicht einfach nur Deniz, an den wir denken. Es sind ja so viele Leute betroffen und involviert: die Familie in Deutschland, die Familie in der Türkei, die Ehefrau, die Anwälte, sein Arbeitgeber, die WELT, mein Arbeitgeber, die taz, Freunde, Leser, politische Gruppen, die Kollegen anderer Medien.

Für mich ist das alles einerseits ein selbstverständlicher Freundschaftsdienst, andererseits empfinde ich aber das, was ich mache, auch als Verpflichtung gegenüber meinem Beruf: Die Vorwürfe, die in der Türkei gegen Deniz erhoben werden, sind irre. Aber sie stehen in gewisser Weise gerade in einem weltweiten Trend: In Deutschland heißen sie Lügenpresse, in den USA Fake News.

Seit dem gescheiterten Militärputsch in der Nacht zum 16. Juli 2016 wurden in der Türkei über 100.000 Menschen verhaftet oder von ihrer Arbeit suspendiert – darunter zahlreiche JournalistenLehrer, Richter und Soldaten, aber auch Mitarbeiter internationaler Hilfsorganisationen. So sitzt seit Anfang Juli der Berliner Menschenrechtler Peter Steudtner in Untersuchungshaft. Die aus Ulm stammende Journalistin Mesale Tolu muss sich mit über 20 anderen Frauen eine Zelle teilen und hat sogar ihren zweijährigen Sohn mit im Gefängnis. Wie vielen anderen auch – etwa 17 Mitarbeitern der regierungskritischen Zeitung „Cumhuriyet“, denen gerade in Istanbul der Prozess gemacht wird – wirft man Steudtner und Tolu vor, eine Terrororganisation zu unterstützen. Ähnlich lautende Vorwürfe gegen deutsche Firmen wie BASF und Daimler hat die türkische Regierung inzwischen zurückgenommen. Der diplomatische Konflikt zwischen den beiden Staaten ist damit aber längst nicht beigelegt: Die vom Auswärtigen Amt herausgegebenen Sicherheitshinweise für Reisen in die Türkei bleiben bis auf Weiteres bestehen.

Kennt der Protest Grenzen?

Wir versuchen zu vermeiden, Erdoğan eine Vorlage zu liefern, die er gegen Deniz oder die Anwälte oder die Familie benutzen kann.

Wie erleben Sie das mediale Interesse an dem Fall Deniz Yücel? Es gibt ja auch immer wieder Kritik, er bekomme zu viel Aufmerksamkeit und andere zu wenig …

Die Medien haben die Verhaftung von Deniz zum Anlass genommen, sofort die Gesamtsituation in den Blick zu nehmen, selbst die BILD hat in den ersten Tagen danach eine Doppelseite mit allen Namen verhafteter Journalisten in der Türkei gedruckt. Schon vorher haben wir bei der taz die taz.-gazete gegründet und Can Dündar und Kollegen das Exil-Magazin Özgürüz – beides hatte nichts mit Deniz‘ Verhaftung zu tun. Das Thema Türkei ist absolut präsent. Wenn uns Leute dafür kritisieren, dass wir uns nicht für alle einsetzen, finde ich die Kritik unberechtigt. Zum einen macht mich das traurig, weil ich immer hoffe, dass das, was wir machen, auch andere motiviert, sich für andere einzusetzen. Zum anderen haben wir von Anfang an betont, dass unsere Forderung nach Freiheit allen inhaftierten Journalisten gilt. Klar sind die Lesungen, die Korsos eine Form, die zustande kam, die, um es mal so zu sagen, sich an Deniz orientiert. Ich kenne die Texte der türkischen Journalisten viel zu wenig, um ernsthaft eine Lesung mit deren Texten zu veranstalten. Und na ja, es wäre auch anmaßend, wenn ich das tun würde. Außerdem bin ich hauptberuflich nicht Campaignerin, sondern mache #FreeDeniz nach Redaktionsschluss, also nach Feierabend.

Haben Sie auch manchmal Sorge, die Aktionen könnten Deniz‘ Situation mehr schaden als nutzen?

Wir fragen uns das bei jeder Aktion. Bei allem, was ich sage oder schreibe, denke ich darüber nach, ob das irgendwie gegen ihn verwendet werden kann. Das ist nicht leicht. Aber gleichzeitig will ich mir selbst nicht irgendwann vorwerfen müssen, dass ich mir von Erdoğan habe vorschreiben lassen, wie ich zu meinem Freund stehe, und den Mund gehalten zu haben.

„Mit Unabhängigkeit zu begründen, dass hunderte Journalisten ohne Anklage und unter absurden Vorwürfen seit Monaten inhaftiert sind, stinkt“

Gibt es Kontakt zur Bundesregierung?

Nein. Jedenfalls hat sich bei mir noch niemand gemeldet. Müssen sie aber auch nicht. Ich denke, wenn es ernsthafte Sorgen gäbe, dass das, was wir machen, Deniz schaden könnte, würde sich sicher jemand melden.

Erdoğan verweist auf die unabhängige Justiz in der Türkei, die sich des Falles annehmen werde. Er könne da nichts machen …

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Doris Akrap (über die wir auch berichteten)

Doris Akrap (Foto: privat) ist mit ihrem ehemaligen taz-Kollegen Deniz Yücel gut befreundet. Unter anderem sind sie zusammen bei der Veranstaltungsreihe Hate Poetry aufgetreten

(über die wir auch berichteten)

Wenn das so ist, müsste die Justiz langsam mal in die Pötte kommen. Mit Unabhängigkeit zu begründen, dass hunderte Journalisten ohne Anklage und unter absurden Vorwürfen seit Monaten inhaftiert sind, stinkt. Und die ganze Welt hat das inzwischen gerochen. Das Mindeste ist doch, dass es eine Anklageschrift gibt, damit man wenigstens weiß, was die Vorwürfe sind. Glücklicherweise hat der Europäische Menschenrechtsgerichtshof den Fall Deniz bereits angenommen. Die deutsche Regierung hat angekündigt, dem Gericht eine Stellungnahme abzugeben. Die türkische Seite hat dazu noch bis Mitte Oktober Zeit. Wir können nur hoffen, dass der zuständige Staatsanwalt in der Türkei, der Deniz‘ Anklage verfasst und noch im Urlaub ist, seinen Text schon früher fertig hat und es bald zu einem Prozesstermin kommt. Dann wird sich zeigen, wie unabhängig die Justiz in der Türkei ist. Jeder unabhängige Richter dieser Welt müsste Deniz freisprechen. Dazu muss man freilich ein Richter sein, der keine Angst davor haben muss, für sein Urteil im Gefängnis zu landen.

Wie geht es weiter?

 

Deniz hat am 10. September Geburtstag. Wenn wir den nicht mit ihm zusammen feiern können, dann werden wir eine große Geburtstagsfeier in etwas anderer Form schmeißen.

 

Titelbild: Privat/Deniz Yücel/dpa