Neulich fand meine Frau ihr iPhone nicht. Es war kurz vor acht Uhr morgens, wir mussten gleich aus dem Haus, die Kinder quengelten, und sie suchte fieberhaft: im Wohnzimmer, im Schlafzimmer, unter allen Decken und Kissen und auf den Ablagen in der Küche. Es war nicht da. Ich sagte, sie würde es wohl einen Tag ohne das Ding aushalten. Sie sah mich an, wütend, verzweifelt. „Das geht nicht!“, rief sie und schüttelte mit Vehemenz den Kopf: „Ohne es habe ich nichts!“

Der Satz brachte mich zum Lachen, aber er hat mich auch ein bisschen erschreckt. „Du bist süchtig“, sagte ich deshalb letztens zu meiner Frau, als sie mich – über ihr iPhone gebeugt – mal wieder nicht wahrnahm. „Du doch auch“, meinte sie ungerührt und ohne aufzuschauen: „Du checkst dein Smartphone doch auch die ganze Zeit.“

76-mal täglich entsperren wir laut einer US-Studie unser Smartphone im Durchschnitt

Und tatsächlich: Auch mein Smartphone-Nutzungsverhalten hat etwas zunehmend Zwanghaftes. Dieses ständige Handy-aus-der-Hose-Zuppeln. Die PIN-Eingabe. Das Absuchen der Statusleiste. Ja, neue Mails. Nein, nichts Wichtiges. 76-mal täglich entsperren wir unser Smartphone im Durchschnitt, ermittelte letztes Jahr eine – wenngleich nicht repräsentative – US-Studie. Tendenz steigend. Ich las, dass unsere Telefone mittlerweile sogar ein Fall für die Drogenbeauftragte der Bundesregierung sind, Stichwort: „Onlinesucht“.

Allein unter Jugendlichen in Deutschland hat sich die Zahl der Internetabhängigen zwischen 2011 und 2015 auf 270.000 etwa verdoppelt. Größter Suchtfaktor: das Smartphone (77,1 Prozent der Fälle), mit teils ernsthaften Folgen für Gesundheit und Gesellschaft. Eine exzessive Nutzung digitaler Medien hängt demnach statistisch zusammen mit gestörtem Sozialverhalten, Problemen in der Schule, Angst- und Schlafstörungen, Störungen von Konzentration und Sprachentwicklung sowie Fettleibigkeit. Von den möglichen Auswirkungen auf unsere Privatsphäre und den Datenschutz ganz zu schweigen.

„Wie kommen wir da wieder raus? Wir, die Gesellschaft, aber auch wir: meine Frau und ich?“

Was lässt sich dagegen tun? Wie kommen wir da wieder raus? Wir, die Gesellschaft, aber auch wir: meine Frau und ich? Wer kann uns helfen? Ich stoße auf die Website der „Radikalen Anti Smartphone Front“ (RASF). Radikal klingt – angesichts des extremen Problems – schon mal gut. Gleich auf der Startseite lese ich Parolen wie „Tanzen statt Twittern!“, „Lieben statt Liken!“ und, oha: „Ficken statt Facebook!“ Lustiger Hipster-Content oder ein ernstes Anliegen?

Die Macher, zwei junge Männer aus Berlin-Neukölln, haben ein Manifest verfasst, das mit über 2.000 Wörtern die Exzesse des digitalen Wandels geißelt, selbst eine englische Version gibt es. Und wenn auch die Aktionen und Demos (1. Mai, Tag der offenen Gesellschaft) eine noch sehr überschaubare Anzahl an Gleichgesinnten zu begeistern scheinen, hat die RASF doch schon ein Echo erzeugt. Auf Gruenderszene.de etwa machte sich der Chefredakteur die Mühe, auf zehn ihrer Thesen zu antworten – und sie teils scharf zu kontern. Die „oft beschworene [Filter-]Blase“ sei „nur eine Legende“, die Gründer der RASF womöglich bloß neidisch auf das in sozialen Netzwerken geteilte „bunte, erfüllte Leben der anderen“, weil sie selber keines hätten.

Ein Anruf also bei Wenzel Gerstner, einem der beiden Initiatoren der Bewegung. Seine Stimme klingt zu Beginn so gar nicht radikal, eher sanft und verständnisvoll, ich meine, einen leichten schwäbischen Einschlag zu hören.

Die RASF soll keine Zeigefingerbewegung sein, aber zum Denken anregen

Nein, ironisch sei die Bewegung keineswegs, stellt er gleich zu Anfang fest: „Die Sache ist sehr ernst.“ Gerstner, 27, ist gerade mit dem VWL-Master fertig und macht bei „Abgeordnetenwatch“ ein längeres Praktikum. Ja, die RASF-Sprüche seien lässig-flippig, aber die Message dahinter eine wichtige: „Das Smartphone hat in alle Lebensbereiche Einzug gehalten“, sagt Gerstner. Entstanden sei das Projekt vor zwei Jahren, als er mit einem Studienfreund feststellte, „wie uns das ankotzt, dass die Leute nur noch vor dem Smartphone sind“. Ich fühle mich verstanden.

Eine „Zeigefingerbewegung“ wollen sie allerdings nicht werden, sondern einfach „zum Denken anregen“, betont der Gründer, und radikal sei die RASF nur im eigentlichen Wortsinne von lateinisch „radix“, die Wurzel. Das heißt: das Problem an der Wurzel packen. Dogmatisch seien sie nicht, auch Smartphone-Nutzer dürften sich selbstverständlich engagieren. Er selbst besitze aber ein Nokia 3310, sagt Gerstner, also einen von den ganz alten Knochen.

„Keine Telefone im Bett, überlege ich, ja, das wäre ein Anfang“

Okay. Zeit für Geständnisse. Ich hole tief Luft. „Meine Frau ist Smartphone-süchtig“, bekenne ich. „Und ich glaube, ich auch. Was können wir da machen?“ Gerstner scheint die Frage nicht zum ersten Mal zu hören. „Smartphone-freie Zonen im Haus etablieren“, legt er gleich los. „Im Schlafzimmer besonders.“ Ich denke an meinen ersten Griff morgens zum Telefon auf dem Nachttisch. An den Schein des iPhone-Bildschirms abends im Dunkeln neben mir. Keine Telefone im Bett, überlege ich, ja, das wäre ein Anfang.

Wenzel Gerstner ist schon beim nächsten Punkt. Wir sollten uns eine App zur Aufzeichnung der Handynutzung herunterladen, etwa die von „Menthal Balance“. So könnten wir erfahren, wie oft wir welche App aufgerufen haben, jeder Klick wird aufgezeichnet. „Im Schnitt nutzen wir unsere Telefone zweieinhalb Stunden am Tag“, erklärt Gerstner, „aber nur sieben Minuten davon für Telefonate.“ Der Rest? „Vor allem diese ganzen Zeitkiller-Apps“, erwidert er.

Candy Crush, Quizduell, Angry Birds – habe ich aber alles gar nicht auf meinem Telefon. Eigentlich nur die Basics: E-Mail, Nachrichtendienste, Webbrowser. Macht mein Leben leichter. Mit Freunden in Kalifornien und Singapur bleibe ich locker in Kontakt. Wichtige Mails kann ich in Echtzeit beantworten, aus der Bahn, im Café. Eine schnelle Online-Recherche, eine Verabredung für später, easy. Auch den Auftrag für diesen Artikel habe ich auf meinem Telefon entgegengenommen, auf dem Weg zu einem Freund.

Im RASF-Manifest heißt es: „Sobald wir nur mit dem kleinsten Anflug von Langeweile konfrontiert sind, greifen wir routiniert in die Hosentasche und lesen etwas nach, das wir nach fünf Minuten wieder vergessen haben.“ Die Gefahr: „Wer nicht gelangweilt ist, wird nicht kreativ, um neue Wege zu gehen oder Gedanken zu entwickeln, die länger als 140 Zeichen sind.“

Ein Like, ein Kommentar, eine Antwort von irgendwem – alles kleine Befriedigungen

Ich erinnere mich: In der Zeit, als ich meinen Roman fertigschreiben musste, reagierte ich höchst allergisch auf jegliche Ablenkung, schmiss erst WhatsApp, anschließend das Mail-Programm, dann auch noch den Browser vom Telefon. Eine wunderbar konzentrierte Zeit. Mittlerweile ist längst alles wieder installiert.

Wenzel Gerstner empfiehlt mir die Zeitspar-App „Offtime“. Mit ihr lassen sich zeitweilig alle ablenkenden und süchtig machenden Applikationen und sozialen Medien abschalten. „Jedes Mal, wenn man das Smartphone rausholt, kriegt man eine kleine Befriedigung“, sagt er, sei es ein Like, ein Kommentar, eine Antwort von irgendwem. Die Message: Da ist noch jemand, der dich liebt. „Das hat absolut Suchtcharakter“, warnt Gerstner, „da muss man für sich strikte Grenzen ziehen.“ Experten gingen davon aus, dass derzeit zweieinhalb Millionen Jugendliche und junge Erwachsene in Deutschland suchtgefährdet, 600.000 bereits süchtig sind.

Wir reden über eine halbe Stunde lang. Als ich auflege, fühle ich mich gut, irgendwie befreit. Jetzt kommt allerdings der schwierige Teil: die Umsetzung. Ich will das alles ausprobieren und auch meiner Frau vorschlagen, derzeit warte ich aber noch auf den passenden Moment. Meist sind wir beschäftigt, mit Arbeit, den Kindern oder … nun ja.

Ihr iPhone hat sie übrigens nicht mehr gefunden an jenem Morgen. Sie wirkte sehr niedergeschlagen, meine Frau, als wir uns unten vor dem Haus verabschiedeten. Ich entdeckte es später zwischen der Matratze und der Rückseite unseres Betts. Es glänzte weiß, sah sehr klein und unschuldig aus.

Titelbild: Verena Brandt