Einen Umschlag mit Geld, den Reisepass, ein Foto von Babby, ihrer Oma: Esther Shapiro, genannt Esty, stopft nur das Wichtigste in den Bund ihrer Strumpfhose, schielt auf ihr Klapphandy und lässt es dann doch liegen. Sie hat keine Zeit, sie muss zum Flughafen und darf dabei eines nicht: auffallen.
Estys Reise ist nicht die einer gewöhnlichen 19-jährigen US-Amerikanerin, die nach Europa fliegt. Es ist eine Flucht. Aus Williamsburg, New York, viel mehr aber aus der ultraorthodoxen jüdischen Gemeinde, in der Esty abgeschottet aufgewachsen ist. Eine Flucht, ausgerechnet nach Berlin, das nicht nur eine der liberalsten Städte ist, sondern auch in Deutschland liegt, im Land der Mörder.
Als dann auch noch rauskommt, dass Esty endlich – und nach einem ganzen Ehejahr längst überfällig, wie alle Familienmitglieder befinden – schwanger ist, werden ihr Ehemann Yanky und sein Cousin Moishe vom Rabbi persönlich über den Ozean geschickt. Sie sollen Esty und das ungeborene Kind zurück in den Schoß der Gemeinde bringen. Ob sie will oder nicht.
So weit der Plot der Serie „Unorthodox“, die sich an den titelgebenden Bestseller der Autorin Deborah Feldman anlehnt. Feldmans autobiografisches Enthüllungsbuch, das sich eher wie ein Roman liest, wurde in den USA und in Deutschland millionenfach verkauft. Wie die Buchvorlage ist auch die Serie eine persönliche und vor allem weibliche Emanzipationsgeschichte: raus aus der arrangierten Ehe, dem reglementierten Kontakt zwischen Männern und Frauen, den Kleidervorschriften, weg vom Leben für Gott, die Familie und etliche Kinder.
Gemeinden wie die Satmarer, gegründet von Überlebenden des Holocaust, sind überzeugt, dass nur maximale Frömmigkeit ein neuerliches Unheil wie die Shoah abwenden kann. Deshalb folgen sie strengen Verhaltensregeln und bleiben unter sich, eine Parallelwelt mitten im zu Ende gentrifizierten Williamsburg. So hinterlässt die Serie Zuschauer, die sich immer wieder bewusst machen müssen, dass sie gerade Bilder aus New York im Jahr 2019 sehen, nicht aus einem osteuropäischen Schtetl vor 100 Jahren.
Mit 19 hat Esty ihr erstes Leben schon hinter sich
Hängen bleibt – Achtung, Spoiler! – etwa die Szene, in der Esty am Tag nach ihrer Hochzeit die Haare abrasiert werden (orthodoxe Frauen verbergen ihre Haare mit einem Kopftuch oder einer Perücke, um zu zeigen, dass sie verheiratet und schicklich leben) und sie zwischen Erleichterung (endlich verheiratet!) und Entsetzen über diesen massiven Übergriff auf ihre Person heult – und gleichzeitig lächelt. Oder wie Esty einer Berliner Frauenärztin erklärt, dass Kinder da, wo sie herkommt, das höchste Gut seien. „We are rebuilding the six Million.“ Der Satz sitzt. Und dem Zuschauer wird klar, wie präsent die Vergangenheit für die Gegenwart vieler ist.
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Auf ihrem Weg in ein selbstbestimmtes Leben stolpert Esty über eine neue Stadt, einen neuen Freundeskreis (der leider etwas holzschnittartig gerät) und die Frage vieler 19-Jähriger: Wer bin ich, wenn ich nicht die sein will, zu der andere mich machen wollen? So weit, so klassisch Coming of Age. Aber während andere Filme das Heranwachsen über die erste Periode, Küsse, Drogen und Alkohol erzählen, flieht Esty vor einer Sekte und ihrer Unterdrückung. Mit 19 hat sie ein Leben bereits hinter sich.
Das Drehbuch stammt von Anna Winger und Alexa Karolinski, Regie hat Maria Schrader geführt, überhaupt ist „Unorthodox“ überwiegend von Frauen produziert. Abgesehen davon, dass das bei Film- oder Serienproduktionen im Jahr 2020 immer noch hervorzuheben ist, setzt diese Besetzung gerade im Hinblick auf die verhandelten Frauenrollen ein Zeichen.
Diese Serie ist für: alle. Denn neben der Selbstbefreiung von Esty erzählt „Unorthodox“ auch vom jüdischen Leben, jüdischem Erinnern und von der Poesie der jiddischen Sprache. („Unorthodox“ wurde als erste Netflix-Produktion in Jiddisch gedreht.) Und obwohl die orthodoxe Lebenswelt mit ihrem frömmelnden Regelwerk stark von Vergangenem geprägt ist, erzählt „Unorthodox“ das orthodoxe Jüdischsein im Jetzt, nicht in der Vergangenheit. Solche Darstellungen jüdischer Gegenwart sieht man in Deutschland immer noch viel zu selten.
Titelbild: Netflix