Es war ein lang gehegter Wunsch von mir, einmal das Shoah-Foundation-Video meiner Großmutter anzusehen, in dem sie Zeugnis ablegt über ihre Erlebnisse im Holocaust. Die Shoah Foundation wurde in Los Angeles gegründet, um die Geschichten von Holocaust-Zeitzeugen für die Nachwelt zu erhalten. Nie hätte ich mir ausgemalt, wo ich die Aufnahmen meiner Großmutter einmal zu sehen bekommen würde: in der Bibliothek der „Topographie des Terrors“ – jenes Dokumentationszentrums, das in Berlin in den Grundmauern der ehemaligen Gestapo-Zentrale errichtet wurde, um an diesem historischen Ort über die Terrorherrschaft der Nazis aufzuklären.
Ich könnte mir kein besseres Symbol für Deutschlands Reue über die Ermordung von sechs Millionen Juden vorstellen, zu denen auch die Familien der Eltern meines Vaters gehörten.
„Deutschlands Mut zur Offenheit im Umgang mit seiner Geschichte hat es auch mir leichter gemacht, in Berlin zu leben und die Stadt zu lieben“
Bei oberflächlicher Betrachtung hat Deutschland sich sehr um eine Wiedergutmachung seiner damaligen Verbrechen bemüht – beginnend damit, dass es sich diese Verbrechen überhaupt eingestanden hat. Das Holocaust-Mahnmal für die ermordeten Juden Europas in direkter Nachbarschaft des Brandenburger Tors wird gemeinhin als eine große Geste der Anerkennung dieser Schuld betrachtet. Seine Eröffnung im Jahr 2006 fiel zusammen mit Deutschlands Ausrichtung der Fußballweltmeisterschaft. Zwei Ereignisse, die damals eine neue Generation von Juden, vor allem aus Israel, in die deutsche Hauptstadt lockten. Deutschland und das jüdische Volk konnten wieder Freunde sein.
Deutschlands Mut zur Offenheit im Umgang mit seiner Geschichte hat es auch mir leichter gemacht, in Berlin zu leben und die Stadt zu lieben. Schon deutsche Schulkinder werden umfassend über den Holocaust aufgeklärt, Oberschüler machen Exkursionen zur Besichtigung ehemaliger Konzentrationslager. Ironischerweise hielt Deutschland es offenbar sogar für nötig, Reste seines Nazi-Images abzuschütteln und seiner „historischen Verantwortung“ gerecht zu werden, indem es seine Grenzen für ungefähr eine Million Flüchtlinge aus Ländern öffnete, in denen Antisemitismus fest verwurzelt ist.
Aber wenn ich mir das Herz gefasst habe, Deutschen die Frage zu stellen (die ihnen viele Juden heimlich gerne mal stellen würden): „Wo waren eigentlich deine Großeltern während des Krieges?“, wunderte ich mich, wie der Holocaust überhaupt geschehen konnte.
– „Sie waren Pazifisten, die gegen den Krieg waren.“
– „Sie lebten auf dem Land und dachten, das mit Hitler werde schon wieder vorübergehen.“
– „Mein Großvater hatte den Traum, Pilot zu werden, deshalb ist er zur Luftwaffe gegangen.“
– „Er hat in der Wehrmacht gedient, also hat er eine weiße Weste.“
– „Ich habe Angst, ihn zu fragen, weil ich meinen Großvater liebe.“
Die meisten Deutschen, die ich kennenlerne, neigen anscheinend dazu, die Verwicklung ihrer Familie in den jüdischen Genozid entweder zu leugnen, zu entschuldigen, zu verdrängen oder schlichtweg zu ignorieren – sei diese Verwicklung nun direkt oder indirekt gewesen. Dies hat mich veranlasst, das Thema als Journalistin näher zu untersuchen. Ich musste feststellen: Es kommt wirklich nur äußerst selten vor, dass junge Erwachsene sich mit der möglichen Nazivergangenheit ihrer Familie auseinandersetzen. In den meisten Familien wird dieses Thema kaum diskutiert, obwohl bei staatlichen Archiven und Auskunftsstellen die Zahl der Anfragen nach Hinweisen auf die Familiengeschichten während der Nazizeit durchaus steigen.
Ich verstehe jetzt besser, warum ein Bundestags-Report vor kurzem zu dem Ergebnis kam, dass 40 Prozent der Deutschen israelbezogene antisemitische Einstellungen haben und warum viele Deutsche israelische Soldaten mit Nazis und muslimische Flüchtlinge mit verfolgten Juden gleichsetzen. Holocaust-Unterricht und -Gedenken laufen Gefahr, grob verallgemeinert zu werden und oberflächlich zu geraten, wenn sie nicht an persönlichen Geschichten festgemacht werden.
„Einzelpersonen und Institutionen haben akribisch Zeugenaussagen von Überlebenden gesammelt – aber was ist eigentlich mit der Seite der Täter?“
Einzelpersonen und Institutionen haben akribisch Zeugenaussagen von Überlebenden gesammelt – aber was ist eigentlich mit der Seite der Täter? So ein Vorhaben wäre natürlich nicht ganz einfach. Aber ehrliche Zeugenaussagen von Deutschen über die Kriegszeiten würden uns in die Lage versetzen, besser zu verstehen, wie es das deutsche Volk zulassen konnte, dass sich dieses Land in eine diebische und mörderische Tyrannei verwandelt hat.
Da die Nazi-Generation bald ausgestorben sein wird, liegt die Bürde des Erzählens nun auf den Schultern der zweiten, dritten und vierten Generation. Deswegen möchte ich deutsche Pädagogen und Erzieher dazu anhalten, deutsche Schüler nicht nur in ehemalige Konzentrationslager zu führen, sondern sie auch zu sorgfältiger, manchmal schmerzhafter Familienforschung anzuhalten.
Denn: Mahnmale aus Messing und Stein zu errichten, Exkursionen zu unternehmen und sogar die Tore des Landes zu öffnen, das ist leicht, sogar kathartisch. Und es macht sich gut in den Augen der Welt.
Aber es ist viel schwieriger, die Tore seines Herzens zu öffnen und in seinem eigenen Inneren ein Mahnmal zu errichten. Aber würden mehr Deutsche die schwierige, unangenehme und unerfreuliche Arbeit auf sich nehmen, ihre Familiengeschichte in die Nazi-Ära zurückzuverfolgen, könnten sie eine Tugend zurückgewinnen, die ihre Vorfahren wahrscheinlich verloren haben, als Hitler die Macht ergriff: individuelle moralische Courage.
Fotos: Hahn&Hartung