Es sind Tausende in Schwarz-Grün. Sie stehen Schulter an Schulter, liegen sich in den Armen. Ungefähr in der Mitte der Curva Sud haben mehrere Dutzende von ihnen eine Fahne über ihren Köpfen aufgespannt. Zoomt man an diese Stelle heran, kann man einen Blick auf Omar erhaschen: funkelnde Augen, strahlendes Lachen. Er wirkt gelöst.
Der Omar, der dieses Foto von sich auf seinem Handy zeigt, ist ein anderer. An einem Montagabend im November sitzt er im zweiten Stock eines Cafés am Rand des Arbeiterviertels Derb Sultan in Casablanca, der größten Stadt Marokkos. Ein schüchterner Junge mit sanftem Händedruck, den Rucksack trägt er geschultert. Sein Oberlippenflaum lässt ihn jünger wirken als seine tatsächlichen 19 Jahre. Das Sprechen überlässt Omar erst mal seinem besten Freund Maleek (beide Namen von der Redaktion geändert), 20, der in einem Hoodie der Punkrockband Ramones neben ihm sitzt.
Im Stadion gelten ihre Gesetze
Normalerweise würde Omar an einem Tag wie heute, einem Spieltag, in sein schwarz-grünes Outfit schlüpfen. Maleek würde ihn mit seinem Roller abholen, sie würden die restlichen Hardcorefans aus der Nachbarschaft treffen und gemeinsam in Richtung Stadion ziehen, um ihren Fußballverein zu unterstützen: Raja Casablanca. Das Stadion unterliegt ihren Gesetzen – so zumindest verhalten sich die Ultras von Raja Casablanca. Denn sie sind jene Fans, die besonders leidenschaftlich und loyal hinter ihrem Team stehen. Und das wollen sie zeigen. Um jeden Preis. Ohne Rücksicht auf die Konsequenzen.
Im Stadion waren Omar und Maleek aber seit vier Wochen nicht mehr, zuletzt am 8. Oktober. Videos von diesem Tag zeigen die Curva Sud, jenen Teil des Stadions, in dem sich Raja-Ultras versammeln, wie die Cannstatter Kurve des VfB Stuttgart oder die Nordtribüne des Hamburger SV, eingehüllt in roten Nebel und graue Rauchschwaden. So dicht, dass die Ultras, die Feuerwerkskörper und Rauchbomben gezündet haben, nicht mehr zu erkennen sind.
Das Zünden von Rauchbomben ist laut dem Code Disciplinaire der Königlichen Marokkanischen Fußballföderation (FRMF) verboten. Genau wie das Werfen von Gegenständen und das Aufhängen von Spruchbändern mit beleidigenden oder politischen Texten. Die Folgen des 8. Oktober: eine Geldstrafe für den Verein und Spielausschluss der Raja-Fans für die nächsten beiden Spiele der laufenden Saison. Diese Prozedur ist nicht ungewöhnlich, vielmehr ist sie das Symbol des Kräftemessens zwischen Behörden und Ultras. Dabei geht es nicht nur um den Fußball.
Das Königreich Marokko scheint stabil: Hierzulande liest man vor allem vom neuen Migrationsabkommen zwischen Deutschland und Marokko und Investitionen des Staatsoberhauptes, König Mohammed VI., der den Ausbau erneuerbarer Energien fördert. Oder von den jüngsten Erfolgen der Marokkaner bei internationalen Fußballturnieren. Doch bei genauerem Hinsehen brodelt es. Die Armut im Land ist nach wie vor hoch, besonders betroffen sind Jugendliche. Dazu kommen Einschränkungen der persönlichen Freiheit. Wer in Marokko den König kritisiert, riskiert, im Gefängnis zu landen. Friedliche Proteste werden immer wieder gewaltsam unterdrückt. Auf der Rangliste der Pressefreiheit belegt Marokko unter 180 Ländern Platz 129.
Für viele junge Marokkaner wie Omar und Maleek ist das Stadion einer der letzten Orte, an dem sie ein Gefühl der Freiheit haben, zu sagen, was sie denken. Zu sein, wer sie sind. Wo sie ihrer Wut und ihrem Frust freien Lauf lassen können. Ein Stück individuelle Freiheit unter dem Deckmantel des Kollektivs.
Als Kind träumte er davon, für Casablanca zu spielen
Im Café in Casablanca hört man Jubel. Raja trifft in der dritten Minute. Omar und Maleek starren mit glänzenden Augen und offenen Mündern auf den Bildschirm unter der Decke. Im Stadion sehen sie vor lauter Freudenrufen, Singen und Springen oft die Tore nicht. Trotzdem würden sie gerade viel dafür geben, genau dort zu sein.
Maleek sagt, andere seien süchtig nach Zigaretten, er sei süchtig nach dem Gefühl im Stadion. Er studiert Ingenieurwesen, Omar kämpft um seinen Schulabschluss. Als Kind träumte er davon, eines Tages bei Raja zu spielen. Weil daraus nichts wurde, sattelte er um: Wenn er schon nicht als Spieler die Liebe zu seinem Team beweisen kann, dann als Ultra.
Mit 18 Jahren, denn Volljährigkeit ist laut dem Gründer der Green Boys eine Voraussetzung für die Mitgliedschaft, trat Omar der Ultragruppe bei. Seine Eltern waren anfangs dagegen. Ultras, das seien Kriminelle, habe sein Vater gedacht. Er befürchtete, sein Sohn könnte in Gefahr geraten oder im Gefängnis landen. Nicht ohne Grund: Immer wieder kam es in der Vergangenheit zu Gewalt im Stadion und auch außerhalb.
Das alles ändert nichts: Die Green Boys sind jetzt Omars und Maleeks Familie. Ihre Regeln sind Gesetz. Drei davon sind Maleek besonders wichtig.
Regel 1: Unterstütze dein Team, egal was kommt.
„Normale Fans verlassen das Stadion oder kommen erst gar nicht, wenn ihr Team schlecht spielt“, sagt Maleek. „Das würden die Green Boys niemals tun. Wir finden immer neue Wege, Raja zu unterstützen.“
Beim Derby gegen den Erzrivalen Wydad Casablanca im November 2019 hielten alle Ultras farbige Folien in die Luft. Gemeinsam formten sie einen Schriftzug, der sich über die gesamte Curva Sud erstreckte. „Room 101“, stand da. Der Raum 101 ist jene Folterkammer aus George Orwells Roman „1984“, in der die schlimmsten Ängste eines Häftlings wahr werden.
Regel 2: Sei mutig, das zu sagen, was gesagt werden muss. Egal, welche Folgen das haben wird.
Einmal, erzählt Maleek, hat die Königliche Marokkanische Fußballföderation ein Spiel von Raja Casablanca verlegt für ein Spiel eines afrikaweiten Turniers. Dass Raja aus dem eigenen Stadion verdrängt wird, stößt bitter auf. Die Ultras protestieren auf der Tribüne. „FRMF allez vous faire enculer“, stand auf ihrem Tifo, wie sie ihre Transparente nennen – „FRMF fickt euch“. Ein gestreckter Mittelfinger in Richtung der Organisation, die als eine der liebsten des marokkanischen Königs gilt.
„Das Risiko ist uns egal“, sagt Maleek. „Wir sagen, was wir wollen. Wenn der Chef der FRMF im Stadion ist, pfeifen wir ihn aus. Und wenn wir für ein ganzes Jahr verbannt werden.“ Und Omar ergänzt: „Wir sind mehr als nur Fußball, wir haben politische Botschaften.“ Botschaften, die sie mit ihren Gesängen lauthals verkünden; die Originaltexte sind im marokkanischen Dialekt Darija verfasst:
Ihr habt Talente vergeudet,
mit Drogen habt ihr sie gebrochen.
Ihr habt das ganze Vermögen dieses Landes geraubt
und es Ausländern gegeben.
Ihr habt diese Generation unterdrückt.
Damit sprechen die Ultras die prekäre Lage einer hoffnungslosen Generation an. Solche Kritik an der Macht sei außerhalb der Kurve, ohne den Schutz der Menge, nicht möglich.
„Es gibt keine Zukunft hier“, sagt Maleek. Wer etwas erreichen wolle, der müsse Marokko verlassen. „Draußen in Europa gibt es Rechte und eine Perspektive, selbst für Migranten“, glaubt Omar. „In Marokko kann ich die beste Bildung genießen und muss trotzdem am Ende Taxi fahren, um über die Runden zu kommen“, sagt er.
Omar möchte nach Toulouse, dort studieren und arbeiten. Die Idee kam von seinen Eltern. Sollte er den Schulabschluss schaffen, würden sie ihm das Studium dort finanzieren, das ist der Deal. Es ist Omars dritter Versuch, das marokkanische Abitur zu bestehen. Omar sagt, er fühle sich von seiner Familie unter Druck gesetzt. Er hat Angst, sie zu verärgern, am schlimmsten wäre die Enttäuschung seiner Mutter. Letztes Jahr hat ein Verwandter, der ein Jahr jünger ist, den Abschluss gemacht. Seitdem sage sie ihm: „Sieh ihn dir an, er ist nach dir geboren und hat es geschafft.“
Maleek träumt von einem Leben in Deutschland. Mit dem Geld, das er dort verdienen könne, würde er seine Familie daheim unterstützen. Dieser Gedanke treibt ihn an. Auch wenn die Vorstellung, von zu Hause wegzugehen, schmerzt.
„Wir lieben unser Land“, sagt Omar. Wenn es nach ihm ginge, würde er sein Land nur als Tourist verlassen. Trotzdem würden fast alle jungen Menschen gehen wollen, auch viele ihrer Freunde bei den Green Boys. Im Fußball-Café in Casablanca hat Omar nach 60 Minuten Spielzeit seinen Rucksack noch immer nicht abgezogen. Er wird ihn auch das restliche Spiel aufbehalten, als wolle er bereit sein, jederzeit aufzubrechen.
Regel 3: Brüderlichkeit!
Betritt ein Green Boy die Tribüne, weiß er, wo er hingehört. Er kennt seinen Platz, an dem er Woche für Woche steht, weiß, welchen Text er singen muss, welchen Teil eines Bildes er formt und wer vor, hinter oder neben ihm steht. Auf der Straße erkennt er seine Mitstreiter mit einem Handzeichen. Omar und Maleek machen es vor: Sie ballen die Hand zur Faust und spreizen Daumen und Zeigefinger ab.
Am Tag seines Beitritts schärfte der Verantwortliche der Zone C – die Green Boys organisieren sich in Zonen – Omar Folgendes ein: „Du musst organisiert und diszipliniert sein, wir müssen uns auf dich verlassen können. Du sollst gutes Benehmen an den Tag legen und keine Drogen nehmen.“ Omar hält sich daran, sagt er. Andere nicht so sehr. Wer zu oft Mist baut, fliegt raus und verliert damit den begehrten Platz im Schoße der Ultragemeinschaft. Wer eine Frau ist, darf laut den Green Boys übrigens gar nicht erst mitmachen. Tatsächlich erspäht man im ganzen Stadion, neben Tausenden Männern, nur eine Handvoll Frauen.
Mittlerweile seien Omars Eltern entspannter, was die Green Boys angeht. Er habe sie überzeugt, indem er nach den Treffen oder Stadionbesuchen pünktlich wieder zu Hause war. Zum Glück. „Wirklich frei fühle ich mich nur im Stadion und in der Moschee“, sagt er. „Und mit meinen Eltern“, fügt er nach einigen Augenblicken pflichtbewusst hinzu.
Wenig später spielt Raja Casablanca gegen Jeunesse Sportive Soualem. Das Spiel findet in einem kleineren Stadion in Mohammedia statt, 25 Kilometer von Casablanca entfernt. Tausende junge Männer füllen die Ränge, sie stehen auf den ungesicherten Mauern des Stadions und auf den Hausdächern gegenüber. Einige Fans legen auf der Wiese hinter der Tribüne ihre Schals und Pullis ab, um zum Gebet zu knien. Andere werfen von der Tribüne Wasserflaschen auf Polizisten und Fotografen. Manche zünden sich einen Joint an. Alle unterstützen Raja Casablanca, Fans aus Soualem sind nicht angereist.
Omar und Maleek sind nicht dabei. Omar muss zur Verlobung seiner Schwester. Maleek hat natürlich eine Eintrittskarte, doch sein Geld reicht nicht für das Zugticket nach Mohammedia.
Mitarbeit: Yassine Oulhiq
Titelbild: Fadel Senna/AFP via Getty Images