Thema – Ukraine

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Fight for Freedom

Immer wieder nahmen andere Länder Einfluss auf die Ukraine und unterdrückten die Menschen. Die Geschichte des Landes ist auch die eines ständigen Kampfs um Selbstbestimmung

Auf dem Majdan protestierten 2014 Tausende für eine Annäherung an die EU.

November 2013, Kyjiw, Stadtzentrum:

Einige junge Ukrainerinnen und Ukrainer, vor allem Studierende, haben sich auf dem Platz der Unabhängigkeit getroffen. Sie protestieren gegen Korruption und für mehr Rechtsstaat. Präsident Wiktor Janukowytsch soll das fertig verhandelte Assoziierungsabkommen zwischen der Ukraine und der EU unterschreiben – so wie er es bereits mehrmals versprochen hat. Obwohl die Polizei die Demonstrierenden vertreibt und zum Teil verprügelt, kommen am nächsten Tag noch viel mehr Menschen und besetzen einen Teil des Majdans, wie der Platz kurz genannt wird. Einige haben Zelte mitgebracht, ab jetzt wollen sie nicht mehr zurückweichen. Neben den Studierenden stellen sich der Polizei Rentner, Arbeiterinnen und Angestellte entgegen, aber auch Nationalisten, Links- sowie Rechtsextreme.* Als früh am Morgen des 11. Dezember 2013 die Sonne über den Dächern Kyjiws aufgeht, ziehen sich die Polizeieinheiten vorerst zurück. Mit solch einem Widerstand der Menschen hatten sie nicht gerechnet.

Demonstrierende ruhen sich aus (Foto: Brendan Hoffman)
Demonstrierende ruhen sich aus: Der „Euromajdan“ führte 2013 zu einem politischen Umbruch (Foto: Brendan Hoffman)

Januar 1919, Kyjiw, Stadtzentrum:

Neben einem Denkmal wehen blau-gelbe Fahnen, einige mit Dreizack und goldenem Löwen, den Symbolen der Ukrainischen Volksrepublik (UNR) und der Westukrainischen Volksrepublik (SUNR). Eine Ehrengarde marschiert auf, es folgen Bauern- und Gewerkschaftsvertreter, Politiker, Wissenschaftler, Lehrerinnen, Menschen aus dem westlich gelegenen Galizien und der Bukowina. Sie feiern noch im Chaos nach dem Ersten Weltkrieg den Zusammenschluss der beiden Volksrepubliken als epochale Wiedervereinigung. Sie bejubeln die Gründung des neuen ukrainischen Staates – und verlesen: „Von nun an ist das ukrainische Volk durch einen mächtigen Impuls seiner eigenen Kräfte befreit, hat die Möglichkeit, alle Anstrengungen seiner Söhne zu vereinen, um einen untrennbaren, unabhängigen ukrainischen Staat zum Wohle und Glück des ukrainischen Volkes zu schaffen.“

Fast 100 Jahre liegen zwischen diesen beiden Szenen in Kyjiw, und beide Male geht es um die Freiheit der Ukraine und den Kampf gegen die Einflussnahme anderer Länder. Doch so wichtig beide Ereignisse für die Entwicklung der ukrainischen Nation sind, so unterschiedlich sind die Umstände der jeweiligen Zeit.

So folgt die Ausrufung der Republik Anfang 1919 auf die russische Revolution von 1917, mit der die Zarenherrschaft endete und die Bolschewiken unter Lenin die Macht übernahmen. Nachdem Teile der Ukraine in den Jahrhunderten zuvor zu anderen Ländern gehört hatten (etwa zu Österreich-Ungarn oder Polen), hoffen die Ukrainer und Ukrainerinnen nach dem Ersten Weltkrieg, als viele Grenzen neu gezogen werden, dass ihre neu gegründete Republik inmitten von Europa bestehen bleibt.** Doch nur Wochen nach der Staatsgründung tobt wieder ein Krieg in Kyjiw. Die Ukrainer kämpfen nun gegen Lenins Rotarmisten – so wie ihre Vorfahren in den mittelalterlichen Schlachten des Großreichs der Kyjiwer Rus, das als Vorläuferstaat der heutigen Staaten Russland, Ukraine und Belarus angesehen wird. Oder wie die Kosaken im 15. und 16. Jahrhundert gegen die polnische Krone oder das Großfürstentum Litauen.

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Weil Stalin die Bauern zwang, ihre Ernte abzugeben, starben in den 1930er-Jahren Millionen Menschen (Foto: Vladimir Sindeyev Tass | dpa/picture-alliance)

Weil Stalin die Bauern zwang, ihre Ernte abzugeben, starben in den 1930er-Jahren Millionen Menschen

(Foto: Vladimir Sindeyev Tass | dpa/picture-alliance)

Erst 1921 gelingt es Lenins Bolschewiken, die ukrainischen Partisanenkämpfer zu unterwerfen. Die heutige Hauptstadt und das kurzzeitig von der Ukrainischen Volksrepublik für sich beanspruchte Gebiet gleichen am Ende des Vielfrontenkriegs einem Trümmerfeld. Die Opferzahlen werden auf mehrere Millionen geschätzt. 1922 ist der Traum der Unabhängigkeit endgültig ausgeträumt, die Ukraine wird als Ukrainische Sozialistische Sowjetrepublik (USSR) Teil der Sowjetunion. Gebiete der Westukraine werden von Polen, Rumänien und der Tschechoslowakei annektiert.

Wie wichtig die Ukraine für die Entwicklung der Sowjetunion ist, sieht man an folgenden Zahlen: 1926 stellt die ukrainische Bevölkerung fast 45 Prozent der Nichtrussen und rund ein Fünftel der Gesamtbevölkerung im neuen Sowjetreich. Eine Weile darf die Ukraine noch ihre kulturelle Identität wahren. Es gibt ukrainische Theater, Schulen, Universitäten, Bücher und Zeitungen. Erst mit Lenins Nachfolger Stalin ändert sich die Politik, es beginnt eine weitreichende Russifizierung. Kirchenleute und Intellektuelle werden verfolgt und häufig nach Sibirien verbannt, anschließend trifft es die Bauern: Ihre Betriebe sollen kollektiviert, sie selbst umerzogen werden. Große Teile ihrer Ernte müssen sie nach Moskau liefern. Diese Politik führt ab 1931 in die Katastrophe.

Holod bedeutet auf Ukrainisch Hunger, mor heißt Mord oder Tötung. Das sich daraus ergebende Wort Holodomor geht in das nationale Gedächtnis der Ukraine ein. Zwischen 1931 und 1934 verhungern mehr als 3,9 Millionen Ukrainerinnen und Ukrainer. Sie sterben, weil Stalin anordnet, ihnen trotz Missernten das Getreide ihrer Felder wegzunehmen, damit es die Sowjetunion ins Ausland verkaufen kann. Stalins „Große Wende“ soll die Erträge der zwangskollektivierten Landwirtschaft erhöhen und die Industrialisierung vorantreiben. Durch Enteignungen, Verhaftungen, massenhafte Deportationen und Hinrichtungen wird die Ukraine „entkulakisiert“ – als „Kulaken“ gelten Bauern, die ihr Land selbstständig beackern, und angebliche Klassenfeinde, die Stalin nicht unterstützen. Als Menschen vor dem Hungertod und sogar Kannibalismus ins Ausland flüchten, lässt Stalin an der Grenze die Armee aufmarschieren. Auch nur über den Holodomor zu sprechen ist verboten.

Doch trotz des massenhaften Sterbens durch Hunger und der Unterdrückung der ukrainischen Identität schafft es die Sowjetführung nicht, das Streben nach ukrainischer Eigenständigkeit zu beenden. Besonders im Westen der heutigen Ukraine hoffen viele Nationalisten in den 1940er-Jahren auf den Ostfeldzug der deutschen Nationalsozialisten. Im Kampf gegen Stalins Armee werden sie von den Nazis jedoch nur benutzt und schließlich selbst massenhaft hingerichtet. Auch die Deutschen wollen keine souveräne Ukraine, sondern sie unter ihre Kontrolle bringen und dem Deutschen Reich unterwerfen.

Bei den Protesten von November 2013 bis Februar 2014 kamen etwa 100 Menschen um, darunter 16 Polizisten (Foto: Maxim Dondyuk, ‚Culture of Confrontation‘)
Bei den Protesten von November 2013 bis Februar 2014 kamen etwa 100 Menschen um, darunter 16 Polizisten (Foto: Maxim Dondyuk, ‚Culture of Confrontation‘)

Nach dem Zweiten Weltkrieg gehört die ukrainische Sowjetrepublik zwar zu den Gründungsmitgliedern der Vereinten Nationen, doch ihre Unabhängigkeit innerhalb der jetzt noch größeren Sowjetunion ist immer noch begrenzt. Kein Flugzeug darf aus Kyjiw direkt Richtung Ausland abheben, alle Wege führen über Moskau. Und weder der Holodomor noch sowjetische Massaker des Zweiten Weltkriegs oder die später von der sowjetischen Propaganda heruntergespielte Tragödie von Tschernobyl 1986 dürfen in der ukrainischen Geschichtsschreibung richtig erwähnt werden.***

Die Freiheit, ihre eigene Geschichte zu erzählen, nehmen sich die Menschen in der Ukraine erst 1989. Um die Jahresmitte schließen sich Zehntausende Bergarbeiter von der Westukraine bis zum Donbas zum größten Streik der sowjetischen Geschichte zusammen. Sie fordern mehr Lohn, die Selbstverwaltung ihrer Betriebe sowie die Streichung der Kommunistischen Partei aus der Verfassung. Im September 1989 vereinigen sich oppositionelle Gruppen in der „Ruch“, der „Volksbewegung der Ukraine für die Perestrojka“. Sie erinnern an die Vereinigung der Ukrainischen mit der Westukrainischen Volksrepublik im Jahre 1919 und helfen im Januar 1990 bei der Organisation einer Kette von Hunderttausenden Menschen, die von Kyjiw nach Lwiw Seite an Seite stehen.

1991 löst sich die Ukraine von der zerfallenden Sowjetunion und ruft einen unabhängigen Staat aus

Im Oktober 1990 kommt es zu Massenprotesten auf dem Majdan. Vor allem Studierende fordern Neuwahlen, die Beschränkung des Militärdienstes von Ukrainern auf das eigene Staatsgebiet und die Ablösung des Regierungschefs der Ukrainischen SSR. Im Rahmen dieser „Revolution auf Granit“ wird Witalij Massol, der Regierungschef der Kommunistischen Partei in der Ukraine, abgesetzt. Im Dezember 1991 löst die Ukraine schließlich formal die Kommunistische Partei auf, beschließt Gesetze für eigene ukrainische Streitkräfte und proklamiert feierlich den unabhängigen Staat Ukraine, wie er heute existiert.

Ähnlich wie in Russland nach Glasnost und dem Zerfall der Sowjetunion folgt auch in der Ukraine auf den Kommunismus keine funktionierende Demokratie. In der neuen Marktwirtschaft häufen wenige Großunternehmer – die sogenannten Oligarchen – durch Korruption Geld und Macht an. Doch anders als in Russland lehnt sich die ukrainische Bevölkerung erfolgreich gegen die korrupte Scheindemokratie auf. In der „Orangen Revolution“ demonstrieren die Menschen 2004 wieder auf dem Majdan gegen Wahlmanipulationen des von Russland unterstützten Kandidaten für das Präsidentenamt, Wiktor Janukowytsch. Der verliert schließlich gegen den westlich orientierten Wiktor Juschtschenko.

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Knutschen gegen den Kreml: junge Demonstrierende bei der „Orangen Revolution“ 2004 (Foto: Sergei Supinsky/AFP via Getty Images)

Knutschen gegen den Kreml: junge Demonstrierende bei der „Orangen Revolution“ 2004

(Foto: Sergei Supinsky/AFP via Getty Images)

Da sich aber das EU-freundliche Lager in den folgenden Jahren spaltet und die Unzufriedenheit in der Bevölkerung wächst, gelangt der russlandorientierte Janukowytsch 2010 schließlich doch ins Präsidentenamt. Es folgt eine Zeit, in der die Korruption blüht und die Opposition immer mehr unterdrückt wird. Als Janukowytsch schließlich die Unterzeichnung des Assoziierungsabkommens mit der EU aussetzt, kommt es zum sogenannten Euromajdan. Die Studierenden und alle Bürger, die sich mit ihnen solidarisiert haben, weichen selbst vor der Polizei, die auf sie schießt, nicht zurück. Sie schützen sich mit selbst gebauten Schilden, Schienbeinschonern und Bauarbeiterhelmen.

Im Februar 2014 flüchtet Wiktor Janukowytsch nach Russland. Doch eine freie, demokratische Ukraine ist das Letzte, was Machthaber Wladimir Putin im Moskauer Kreml will. Kurz nach dem Erfolg des Volksaufstandes, auch „Revolution der Würde“ genannt, lässt er durch sein Militär die Krim annektieren. Es ist der Beginn des bis heute andauernden Kriegs in der Ukraine.

 

* Die in der Endredaktion überarbeitete Fassung des Textes wurde auf Bitten des Autors korrigiert. Zunächst stand hier: „Neben den Studierenden stellen sich der Polizei Rentner, Arbeiterinnen und Angestellte entgegen, aber auch radikale Nationalisten und Rechtsextreme.“

 ** Die in der Endredaktion überarbeitete Fassung des Textes wurde auf Bitten des Autors korrigiert. Zunächst stand hier, dass die Menschen hofften, dass ihre Republik „anerkannt wird“.

 *** Die in der Endredaktion überarbeitete Fassung des Textes wurde auf Bitten des Autors korrigiert. Zunächst stand hier, dass die „von der sowjetischen Propaganda verschwiegene Tragödie von Tschernobyl 1986 in der ukrainischen Geschichtsschreibung nicht erwähnt" werden durfte.

Titelbild: Giorgio Bianchi

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