Thema – Gender

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Die Tagebücher meiner Schwester

In seiner Jugend war unser Autor ein typisch toxisch männlicher Depp. Und heute?

Tagebuch

Erst kürzlich entdeckte meine Schwester die Tagebücher ihrer Kindheit wieder. Wir waren zufällig in unserer Heimat, einem kleinen bayerischen Dorf. Auf der anderen Straßenseite weiden statt Kühen neuerdings Alpakas. Alles ändert sich, das Dorf, das Klima, wir. Meine Schwester ist drei Jahre jünger als ich. Als sie erzählte, was ihr 14-jähriges Ich geschrieben hatte, da war ich plötzlich mit einem Teil meiner Vergangenheit konfrontiert, den ich so bitter vergessen wollte.

Sie hatte damals eine Liste über mich verfasst. Hier ist sie.

  +

 -  

—  beschützt mich

— macht Witze über mich

—  ist mein Firmpate

— beleidigt mich

—  liebt „Star Wars“

— erniedrigt mich

—  er ist mir sehr ähnlich

— lacht mich aus

—  spielt gerne mit mir Wii

— schlägt mich

Da ist der Eintrag vom 12.12.2011, vier Monate vor meinem Abitur: „Martin hat gesagt, ich wäre fett und hässlich. Er sagt das oft, und jedes Mal kränkt mich das mehr.“

Das las mir meine Schwester neulich aus dem alten Tagebuch vor – und mit jedem Satz habe ich mich mehr geschämt. Wir sprachen über „Toxic Masculinity“, und ich fragte naiv: „War ich toxisch männlich?“ Meine Schwester musste kurz lachen wegen der depperten Frage. Natürlich war ich es.

Toxischer Männlichkeit schadet nicht nur anderen, sondern auch den Männern selbst

Elf Jahre sind die Tagebücher nun alt. Mittlerweile bin ich 28. Aber es lässt mich nicht mehr los: Warum war ich damals so? Wieso bin ich es nicht mehr? Und bin ich es wirklich nicht mehr?

Was ist „toxisch männlich“? Die Frage sei einfach zu beantworten, das dachte ich zumindest, doch Definitionen dazu gibt es viele. Eine Schweizer Kriminalistik-Zeitschrift beschreibt es so: „Toxische Männlichkeit“ ist ein Rollenbild, das allgemein von Dominanz geprägt ist, das Aggressivität zur Präsentation der eigenen Männlichkeit nahelegt und eine Unterordnung von Frauen befürwortet. Oft wird betont, dass Männer damit nicht nur anderen, sondern auch sich selbst schaden. Das mag sein – denn Folgen toxischer Männlichkeit können soziale Isolation, Depressionen oder ein höheres Sterberisiko sein. Auf der anderen Seite beschreibt toxische Männlichkeit ein Verhalten, von dem im patriarchalischen System Männer häufig profitieren.

Ich lese das, und sofort kommen Erinnerungen hoch. Wie beschissen ich die Mädchen behandelte, erst nett chattete, so lange, bis wir auf den Partys rumknutschten. Danach von den Jungs feiern lassen, danach das Mädchen fallen lassen, danach so viel Bier trinken, bis man kotzt.

Ich erinnere mich, wie ich mit Freunden das Wrestling-Game „WWE 2008“ auf der Wii spielte, verlor und dem Gewinner aus Rache volle Kanone in seine schmale Brust dropkickte. Anders konnte ich meine Emotionen damals nicht zeigen. Dominanz, Aggressivität, Unterordnung von Frauen. Alles da.

„Ich kann mich nicht erinnern, in meiner Jugend jemals darüber gesprochen zu haben, wie es mir geht“

Warum war ich so? Meine Schwester erzählt eine Geschichte, die alles auf den Punkt bringt. Ein Familiengrillen, dabei auch Freunde meines Vaters. Wir tranken Bier. Meine Schwester mochte kein Fleisch, nur Käsekrainer aß sie noch. Doch bevor sie eine greifen konnte, hatte ich mir alle gekrallt.

„Du hast dann gesagt, du wärst älter, du wärst der Mann und deshalb viel höher in der Familie.“ Das Schlimmste sei gewesen, erinnert sich meine Schwester heute, dass alle es gehört und niemand etwas gesagt hätte.

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An meine Kindheit habe ich nur Shades of Erinnerungen, es fällt mir schwer, Anhaltspunkte für meine Persönlichkeit zu finden. Meine Schwester ist die Hüterin meiner Erinnerungen. Vor ein paar Jahren habe ihr einer meiner ältesten Freunde erzählt, dass sie mich immer ausgelacht hätten, wenn ich geweint habe. Er bereue das sehr, hätte er gesagt.

Ich kann mich nicht erinnern, in meiner Jugend jemals darüber gesprochen zu haben, wie es mir geht. Auch nicht nach Hänseleien. Meine Mutter war mit sich selbst beschäftigt, mein Vater arbeitete und midlife-criste vor sich hin. Ich hatte meinen Opa und meine Oma und Nachmittagsfernsehen. Nur diffus habe ich einen Beschluss mit mir selbst im Hinterkopf: Ich bin ein Mann. Ich weine nicht.

„Toxisch“ ist dieses Rollenbild deshalb, weil es sowohl fremd als auch selbstgefährdend sei, schreiben die Forscher in der Schweizer Kriminalistik-Zeitschrift. Nach dem Abitur zog ich zum Studieren nach Wien, fand null Anschluss in dieser Stadt voller Hipster und deutscher Numerus-clausus-Flüchtlinge. Ich war allein. In Wien fand der erste Versuch einer Reflexion statt: Wer bin ich? Wie will ich sein? Wie gehe ich mit Menschen um? Ich beschloss, meinen Umgang mit Frauen, nein, mit allen Menschen grundlegend zu ändern. Aber wie?

Nach einem Jahr zog ich nach Passau, lernte zwei meiner noch heute besten Freunde kennen. Wir verbrachten lange Abende, im Wohnzimmer liegend, redend. Am Anfang belächelte ich sie, wie sie soziale Situationen auseinandernahmen oder sich in ihre Gefühle hineinarbeiteten. Fast manisch, so kam mir das vor. Bis sie mich fragten: Wie geht es dir wirklich? Und ich konnte nichts antworten. Wenn ich nicht einmal meine Gefühle, meine Bedürfnisse für mich selbst ausdrücken konnte, wie sollte ich dann die Gefühle und Bedürfnisse anderer erkennen?

„Meine Beine gaben nach, ich brach vor Hunderten Leuten in Tränen aus. Ich war schwach. Es war mir egal“

Wie massiv die Krise meiner Männlichkeit war, merkte ich erst, als mein Opa starb. Als der Anruf kam, spürte ich eine solch tiefe Traurigkeit wie noch nie zuvor in meinem Leben. Aber ich konnte nicht weinen. Sie konnte nicht raus, diese Traurigkeit, über Tage und Tage. Bis ich am Grab stand, der Sarg langsam hinabgesenkt wurde und ich merkte: Jetzt ist er weg. Meine Beine gaben nach, ich brach vor Hunderten Leuten in Tränen aus. Ich war schwach. Es war mir egal.

Es war eine Katharsis, ohne die ich vielleicht nie die erste Liebe meines Lebens kennengelernt hätte. Sie war sehr depressiv, erdrückt von den Erwartungen der Welt, ihr Selbstwertgefühl am Boden. Es gab Monate, in denen wir alle zwei Tage im Bett lagen, für Stunden, sie weinte in meinen Armen. Ihre Muskeln schmerzten wie Hölle, die innere Anspannung hatte sich in eine äußere übertragen. Ich lernte, zuzuhören, Rücksicht zu nehmen, zu trösten. Wenn andere es nicht so gut haben (können) wie man selbst, dann wollte ich zumindest versuchen, sie verdammt noch mal hochzuziehen.

„Bin ich immer noch toxisch männlich?“, fragte ich meine Schwester letztens. Ihre Antwort überraschte mich.

Schwester: „Klar.“

Ich: „Oida, wirklich?“

Schwester: „Das ist alles ein Spektrum. Jeder hat toxische Züge, aber du setzt dich damit auseinander, immerhin.“

Ich: „Ich kann dann quasi auch kein Feminist sein.“

Schwester: „Doch. Ich würde dich schon so nennen.“

Ich zögere.

Ich: „Hmmm. Da fühle ich mich unwohl. Ich setze mich ja nicht aktiv für eine Frauenbewegung ein.“

Schwester: „Aber du glaubst daran, dass alle Geschlechter gleichberechtigt sind. Und behandelst Frauen auch so.“

Ich: „Ich mach eigentlich nur das Mindeste.“

Schwester: „Natürlich gibt es auch die männlichen Feministen, die dann den Frauen mansplainen, wie Gleichberechtigung geht.“

Ich: „Vielleicht ist es das. Vielleicht will ich einfach keiner von denen sein.“

Schwester: „So eine Auseinandersetzung mit dir selbst ist ja nie vorbei.“

Am selben Tag, an dem meine Schwester die Tagebücher fand, lud sie mich am Bahnhof ab. Ich fuhr in mein neues Zuhause. Noch als ich im Zug sitze, schickt sie mir weitere Seiten, wir unterhalten uns weiter über das Gewesene. „Ich war so ein Arschloch“, schreibe ich. Und sie schreibt mir:

„Martin, du bist für mich eine Süßigkeit als Mensch jetzt. Eine, die manchmal ganz nervig zwischen den Zähnen klebt, aber du machst mein Leben schön!“

Als ich den Satz für diesen Artikel abtippe, kommen mir die Tränen.

Titelbild: privat

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