Thema – Gender

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Tränensäcke

Für das vermeintlich „starke Geschlecht“ ist es noch immer schwer, Schwäche zu zeigen. Wie lässt sich das ändern?

Weinende Männer

Es ist schon dunkel, als die Tränen kommen. Allan* sitzt noch am Schreibtisch. Es ist spät geworden, wie so oft in den letzten Monaten. Er studiert Jura, das Staatsexamen steht kurz bevor. Dafür lernt er bis spät in die Nacht, doch der Stoff will einfach nicht hängen bleiben. Er fragt sich oft: „Wie kannst du eigentlich so blöd sein?“ An diesem Abend überrollt es ihn. Frust ist im Laufe der Wochen zu Verzweiflung geworden, er fühlt sich wie ein Versager. Er will nicht weinen, doch die Tränen lassen sich nicht mehr zurückhalten. Eine nach der anderen tropft auf die Schreibtischplatte.

Das ist eineinhalb Jahre her. Heute ist Allan 25, das Staatsexamen hat er bestanden, eine Stelle als Rechtsreferendar beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge gefunden. Die Tränen von damals scheinen in weiter Ferne, doch Allan erinnert sich noch ganz genau. An diesem Abend hat er das letzte Mal geweint, Allan weint nicht oft. Damit ist er nicht allein, wie eine Studie der Deutschen Ophthalmologischen Gesellschaft zeigt: Demnach weinen Männer höchstens 17 Mal im Jahr – Frauen bis zu 64 Mal. Die Unterschiede bilden sich erst im Laufe des Lebens heraus. Bis zum 13. Lebensjahr liegen Jungen und Mädchen etwa gleich auf.

Männlichkeit kann Spuren von Gift enthalten

Grund dafür seien Unterschiede in der Sozialisation, sagt der Psychologe Björn Süfke. Wir lernen schon als Kinder, dass für Männer und Frauen andere Regeln gelten – eine Art Gender-Knigge, der auf einem konstruierten Bild von Geschlecht beruht. Diese Rollenbilder sind tief in unserer Gesellschaft verwurzelt. Sie werden mal als blöder Spruch à la „Echte Männer weinen nicht“ reproduziert, oft aber viel subtiler. In Filmen schluchzen in der Regel nur Frauen; für 007, Indiana Jones und Co. gilt ein zwar unausgesprochenes, aber sehr striktes Tränenverbot. Wer als Junge lernt, dass es für das vermeintlich „starke Geschlecht“ nicht erlaubt ist, Schwäche zu zeigen, wird sich auch als Mann schwer tun, zu weinen.

Heul doch

Weinende Männer
Heul doch! Gracie Hagen macht öffentlich, was meist verborgen bleibt: Die Fotografin hat Männer (und Frauen) vor ihrer Kamera zum Weinen gebracht.

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Weinende Männer
Ihre Arbeit heißt „Secretomotor Phenomenon“: Weinen gilt im Medizinjargon als „sekretomotorische“ Reaktion.

Als Allan an diesem Abend vor eineinhalb Jahren weint, erhellt nur das dumpfe Licht der Schreibtischlampe den Raum, sehen kann ihn niemand. Wenn er spürt, dass die Tränen kommen, zieht er sich zurück – an einen Ort, an dem er sich sicher fühlt, sicher genug, um die Tränen zuzulassen, ohne Angst vor „schwierigen sozialen Situationen“ haben zu müssen. Die Vorstellung, dass ihn fremde Menschen auf der Straße auf sein Weinen ansprechen könnten, ist ihm wahnsinnig unangenehm, aber selbst in seiner WG macht er lieber die Tür zu.

Allan beschreibt sich als einen eher rationalen Menschen. Hat er Probleme, versucht er sie von außen zu betrachten und durch emotionale Distanz zu einer Lösung zu kommen. „Der emotionale Ausbruch bringt mich nicht weiter“, sagt er.

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Viele Männer nutzen unbewusst Strategien, um ihre Gefühle zu unterdrücken. Ein klassisches Beispiel sei das Rationalisieren, sagt Süfke. Rationalisierer könnten zwar über Gefühle sprechen, aber nur theoretisch. Das sei ein Sprechen, das in den Kopf gehe und nicht ins Herz. „Das bringt uns mit dem Problem, das jemand mit seiner Frau, seiner Identität oder seinem Leben hat, nicht weiter“, sagt Süfke. Eine andere Strategie sei blinder Aktionismus: machen statt fühlen.

Allan glaubt, dass es Situationen gibt, in denen es akzeptierter ist, Gefühle zu zeigen – bei Trauer oder in Extremsituationen zum Beispiel. Als er 15 Jahre alt ist, stürzt einer seiner Mitschüler vom Dach der Schule. Niemand weiß, ob er überleben wird. Damals sieht er seine männlichen Freunde und Klassenkameraden zum ersten Mal weinen. „Wenn dann alle heulen, dann merkt man, hier ist es in Ordnung. Und dann fühlt es sich auch gut an“, sagt Allan. Das gemeinsame Weinen habe sie einander näher gebracht.

Christian-Wendelin* ist 83 Jahre alt. Viele Jahre hat er als Arzt in Berlin gearbeitet; heute lebt er mit seiner Frau in Brandenburg – gemeinsam mit Hund, Katze, Pferd und Esel. Aufgewachsen ist Christian-Wendelin in Breslau. Seine erste Erinnerung an das Weinen geht zurück in diese Zeit. Er ist fünf Jahre alt, als er gemeinsam mit seiner Mutter den Vater am Bahnhof verabschiedet: Er muss nach Russland, zurück an die Front. Als der Zug abfährt, brechen er und seine Mutter in Tränen aus. „Ich erinnere mich, dass sie mich auf dem Arm hatte und wir beide geweint haben“, sagt er. Noch heute rührt ihn die Erinnerung zu Tränen. Während er erzählt, wird seine Stimme immer leiser, verstummt schließlich ganz.

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Weinende Männer
„Unsere Gesellschaft schätzt Verwundbarkeit zu wenig“, findet die Fotografin Hagen. „Dabei sind Emotionen nun mal unser Weg, Erlebtes zu verarbeiten.“

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Weinende Männer
Tatsächlich aber würden emotionale Männer schnell als „Schwächlinge“ abgestempelt werden und weinende Frauen als „hysterisch“.

Christian-Wendelin räuspert sich. Dann erzählt er weiter: Als er geboren wird, hat der zweite Weltkrieg gerade begonnen. Sein Vater kommt traumatisiert aus dem Krieg zurück, seinen Kindern gegenüber zeigt er kaum Emotionen. „Als Kind habe ich meinen Vater nie weinen sehen“, sagt er. Auch andere Männer erlebt er wenig emotional. Das sei damals so üblich gewesen.

Schon in der Schule lernt er: Weinen kommt für Jungs nicht in Frage. Der Mathe- und Sportlehrer erzieht die Kinder zu „harten Männern“. Christian-Wendelin ist kein guter Schüler. Sport liegt ihm nicht, Mathematik noch weniger – seine Legasthenie macht ihm große Schwierigkeiten, er ist permanent versetzungsgefährdet. Doch er schluckt die Tränen hinunter, wenn unter der Klassenarbeit wieder einmal eine fünf steht. Zu groß ist die Angst, die Tränen könnten seinen Ruf noch verschlechtern. Erst Zuhause bricht es aus ihm heraus, das Verständnis seiner Mutter gibt ihm Sicherheit.

„Ein fehlender Gefühlszugang macht unglücklicher, ungesünder, anfälliger für psychische und körperliche Erkrankungen“

Den meisten Männern werde ein Zugang zu den eigenen Gefühlen regelrecht abtrainiert, sagt Süfke. Zu ihm kommen Männer mit den unterschiedlichsten Problemen – die Ursache ist häufig die gleiche: Die meisten Männer hätten Schwierigkeiten, ihre Gefühle wahrzunehmen, sagt Süfke. Dass sie nicht weinen könnten, sei deshalb nur die logische Folge: „Wenn ich die Trauer nicht spüre, weine ich nicht.“

Das hat auch gesundheitliche Folgen: „Ein fehlender Gefühlszugang macht einen nicht nur unglücklicher, er macht auch ungesünder, anfälliger für psychische und körperliche Erkrankungen“, sagt Süfke. Männer greifen öfter zu Alkohol und Drogen und nehmen sich häufiger das Leben. All das seien Gründe dafür, warum man von toxischer Männlichkeit sprechen sollte, sagt Süfke. Das traditionelle Männerbild sei nicht nur toxisch für die Gesellschaft, für Frauen und Kinder als Opfer von männlicher Gewalt und Unterdrückung, sondern auch für die Männer selbst.

Weiterschauen

Disziplin und Marschieren, aber auch Verletzlichkeit und Yoga stehen auf dem Lehrplan der Chrysalis Academy in Kapstadt. Kann so ein Lehrplan die Schüler zu besseren Männern machen?

Doch wie lässt sich Männlichkeit entgiften? „Veränderung entsteht nur durch Bewusstseinsbildung“, sagt Süfke. Das gelte für gesellschaftliche Prozesse genauso wie im Privaten. Männer müssten anfangen, sich mit ihrer Männlichkeit auseinandersetzen, Rollenvorstellungen zu hinterfragen.

Wie, sei erstmal völlig egal: Ob durch ein Buch oder einen Radiobeitrag, im Gespräch mit Freunden oder mit therapeutischer Hilfe.

Dass er heute weinen kann, liege zum Großteil an seiner Mutter, glaubt Christian-Wendelin. Anders als sein Umfeld erwartet sie von dem Jungen nicht, seine Tränen zu verstecken. Manchmal weinen sie gemeinsam. So habe er gelernt, dass Weinen nichts ist, wofür Mann sich schämen müsse, sagt er. Anders als viele Männer in seinem Alter.

Sich gänzlich vom Gefühl der Scham zu befreien, war auch für Christian-Wendelin ein Prozess: Geholfen haben ihm das Verständnis von Kolleginnen und Freunden, von Kindern und Partnerin.

Bei der jüngeren Generation beobachtet Christian-Wendelin bereits eine Veränderung: „Ich glaube, dass die harten Männer eher weniger werden“. Auch er weint heute mehr als früher, vor allem aus Rührung. „Wenn ich bei klassischer Musik weine, empfinde ich keinerlei Schmerz. Das ist etwas, das mich positiv erfüllt.“ Dann ist Weinen nicht nur Erleichterung, sondern Bereicherung.

* Beide Protagonisten wollten ihren vollen Namen lieber nicht in diesem Text lesen. Daher stehen hier nur Vornamen.

Fotos: Gracie Hagen

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