Thema – Zahlen

Suchen Newsletter ABO Mediathek

Die Burg der Daten

Wie viele sind wir? Wo wohnen wir? Wie kommen wir zur Arbeit? Beim Statistischen Bundesamt sucht man in den Zahlen nach Antworten. Ein Besuch

Statistisches Bundesamt

Als das letzte Mal penibel nachgezählt wurde, lebten in Deutschland nicht 83.222.441 oder 83.222.443, sondern ganz genau 83.222.442 Menschen. Es dauert gute fünf Sekunden, diese Zahl überhaupt nur auszusprechen. Dreiundachtzigmillionenzwei-hundertzweiundzwanzigtausendvierhundertzweiundvierzig. Diese Zahl ist ein Monstrum.

Sie wird auch nicht handlicher, wenn man sie unterteilt – etwa in 42.161.888 weibliche, 41.060.554 männliche oder insgesamt 10.787.175 Menschen ohne deutschen Pass, die aber in der Bundesrepublik gemeldet sind. Eine Illusion ist außerdem ihre absolute Präzision.

stefan_dittrich.jpg

Stefan Dittrich

„Die Wirklichkeit in Zahlen verwandeln“ – Destatis-Mitarbeiter Stefan Dittrich

Der aktuelle Stand der Erhebung ist der 30. September 2021. Und die Zahl war vielleicht schon an diesem Stichtag nicht mehr korrekt. Es gibt Umzüge, Sterbefälle und Geburten, Menschen wechseln die Staatsangehörigkeit oder das Geschlecht. Die Daten in den Meldeämtern ändern sich von Tag zu Tag. Und trotzdem ist diese Illusion etwas, mit dem gearbeitet werden kann – alles andere also als eine Schätzung oder eine „gefühlte Wahrheit“. Die Zahl ist ein Näherungswert, wie er näher derzeit nicht machbar ist. Und an dieser Zahl hängt viel: von der Sitzverteilung im Europäischen Parlament über Zahlungen aus Deutschland nach Brüssel oder die Zuschnitte von Wahlkreisen. Und auch, wie viel Geld jedes Bundesland zur Verfügung hat.

Destatis, wie das Statistische Bundesamt abgekürzt wird (und wie auch seine Internetadresse lautet), ist ein gigantischer Datenstaubsauger, der die Zahlenkolonnen und Ziffernpartikel nicht nur sammelt, sondern auch in Zusammenhänge bringt und auswertet. Demografie, Handwerk, Sozialhilfe, Haushalt, Gewerbe, Bildung, Forschung, Wirtschaft, Steuern, Verkehr, Energie, Arbeitsmarkt, Wohnungen – wo und wie auch immer sich Deutschland statistisch erfassen lässt, geschieht das hier, immer in Abstimmung mit den Melderegistern, Finanzämtern und anderen Erhebungsstellen der Länder und Kommunen.

Die Behörde hat ihren Hauptsitz in der hessischen Landeshauptstadt Wiesbaden. Rechnet man die Standorte in Bonn und Berlin hinzu, arbeiten gut 2.500 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter bei Destatis. Einer davon ist Stefan Dittrich, der lächelnd erklärt: „Vielleicht kann man sagen, dass wir erst die Wirklichkeit in Zahlen verwandeln und dann die Zahlen wieder in Wirklichkeit.“

Zensus 2022: Dieses Jahr findet die zweite Volkszählung statt

Etwa 400 Statistiken aus allen nur denkbaren Bereichen werden in der Behörde laufend erstellt und bearbeitet, und Dittrich ist in leitender Funktion für eine wahre Herkulesaufgabe zuständig: den Zensus 2022. Es ist, nach dem Zensus 2011, die zweite komplette Volkszählung seit der Wiedervereinigung. Dafür werden in den kommenden Monaten etwa 10,3 Millionen Menschen per Zufall ausgewählt und befragt – u. a. nach Alter und Geschlecht, Staatsangehörigkeit, Bildungsstand und Beruf. Ein Schwerpunkt liegt dieses Mal auf dem Thema Wohnen – es geht also um Miethöhe, Wohnungsgrößen und Leerstand.

Von der Insel in der Nordsee bis zum Einsiedlerhof in den Alpen: Ein Heer von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern wird bundesweit ausschwärmen und an Türen klopfen. Die Mithilfe verweigern darf man nicht. Wer zufällig ausgewählt wurde, muss Auskunft erteilen, Bürgerpflicht. Die Bundesrepublik wiederum ist von der EU verpflichtet, diese Erhebung durchzuführen. „Was wir tun, ist kein Selbstzweck“, sagt Dittrich. „Es dient der Wissenschaft, es dient der Politik, es dient der Objektivierung – und damit uns allen.“

Volkszählung (Foto: Roland Holschneider/dpa/picture alliance)

Auf uns könnt ihr nicht zählen! Gegen die „Volkszählung“ 1987 gingen noch Tausende auf die Straße

(Foto: Roland Holschneider/dpa/picture alliance)

Das sehen manche anders: Bei den vorherigen Zählungen formierte sich zum Teil starker Widerstand. Vor der damals noch „Volkszählung“ genannten Erhebung unter sämtlichen Einwohnern 1987 legten Bürgerinnen und Bürger sogar Beschwerde beim Verfassungsgericht ein, da sie fürchteten, die erhobenen Daten könnten missbraucht werden.

Die große Zählung ist so etwas wie die Inventur im Supermarkt. Was ist da, was nicht? Wo braucht es mehr Kindergärten? Wo lohnen sich neue Straßen, neue Bahnlinien? Wie wird in Deutschland geheizt? Wer ist erwerbstätig, arbeitslos oder zu jung zum Arbeiten? Im Grunde gibt es zu den meisten Punkten Auskünfte bei den Meldeämtern, aber die sind zu unvollständig, um Aussagen im bundesweiten Zusammenhang treffen zu können. Daher braucht es die Volkszählung.

statistisches_bundesamt.jpg

Wer kommt, wer geht? Sarah Weißmann und Jan Eberle wissen genau, wer in Deutschland lebt

Wer kommt, wer geht? Sarah Weißmann und Jan Eberle wissen genau, wer in Deutschland lebt

Sarah Weißmann vom Referat für die Bevölkerungsfortschreibung beschäftigt sich mit der Zusammensetzung der Bevölkerung. Auch für ihren Bereich liefert der Zensus 2022 neue, wichtige Daten. Sie weist auf die sogenannte Bevölkerungspyramide hin, „die man ja meistens schon aus der Schule kennt“. Hier wird die Einwohnerschaft grafisch so dargestellt, dass sich auf den ersten Blick schon ihre Überalterung ablesen lässt. „In den letzten Jahren“, fügt Weißmanns Kollege Jan Eberle hinzu, „ist Deutschland nur deswegen nicht geschrumpft, weil wir so viel Zuwanderung haben.“ Momentan kommen die meisten Menschen aus der Ukraine nach Deutschland. Auch wenn viele von ihnen wieder in die Heimat wollen, werden einige dauerhaft hier leben. Auch hierzu hält Destatis Politiker und Medien auf dem Laufenden. Dasselbe gilt für die Coronapandemie: Beim Versuch, ihren Verlauf im Blick zu behalten und in den Griff zu bekommen, tauscht man sich mit dem Robert-Koch-Institut aus. „Unsere Zahlen“, sagt Sarah Weißmann, „machen die Lage auch international erst vergleichbar.“

Gespannt sind alle im Amt nun auf den „Zensus 2022“, auch weil die Zahl von 83.222.442 höchstwahrscheinlich keinen Bestand haben wird. „Unsere Berechnungen“, erklärt Eberle, „tendieren dazu, über lange Zeit gewisse Fehler aufzubauen.“

Die Ergebnisse des Zensus wirken sich auf viele politische Prozesse aus – nicht nur auf die Anzahl der Schulen oder Kindergärten oder etwa auf neue Radwege im Land. Für die Bundesländer, Städte und Gemeinden geht es ganz handfest um Geld. Darum, wie viel jedes Bundesland aus dem Länderfinanzausgleich bekommt oder wie viele Fördermittel der EU wo in der Land- und Stadtentwicklung ausgegeben werden können.

Beim letzten Zensus 2011 stellte sich heraus, dass Berlin quasi über Nacht rund 180.000 Einwohner und Einwohnerinnen weniger hatte, als zuvor angenommen worden war. Als Ergebnis bekam die Hauptstadt 470 Millionen Euro weniger aus dem Topf des Länderfinanzausgleichs überwiesen.

Dieser Text wurde veröffentlicht unter der Lizenz CC-BY-NC-ND-4.0-DE. Die Fotos dürfen nicht verwendet werden.