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The Wire

Seit Jahrzehnten sperrt Stacheldraht Menschen aus und ein. Wie ist es, wenn man davon lebt? Besuch bei einem Zaunhändler, der sich Fragen stellt

Stacheldraht

Der Draht glänzt wirklich schön. Entlang der Autobahn im Norden Berlins hat ein Transportunternehmen vor Kurzem seinen Zaun aufgerüstet: mehrere Rollen NATO-Draht am oberen und unteren Ende. NATO-Draht ist eine neuere Variante des Stacheldrahts: Den lang gezogenen Stahldraht mit Dornen ersetzt ein dünnes Blechband, in das scharfe Klingen eingestanzt sind. Den laufenden Meter bekommt man schon für 50 Cent.

Neben der Anlage läuft der Draht gleich weiter: Die Justizvollzugsanstalt Plötzensee schließt an, auch sie in NATO-Draht gehüllt. Eine kleine Hochsicherheitszone mitten in der Stadt. Und einer, der davon schwärmt, wie schön das glänzt. Neulich kam er zufällig am neuen Zaun vorbei, erzählt Efekan Dikici am Telefon. Da sei ihm das mal wieder aufgefallen. Dikici ist Geschäftsführer von Mutanox, einem „Stahlgroßhandel mit kleiner Montagetruppe“, wie er selbst sein Unternehmen nennt. Im Angebot: Zäune, Gitterroste, Balkongeländer. Aber eben auch: Stacheldraht, NATO-Draht und Mauerspitzen.

Im Einsatz an Grenzen, in Gulags und KZs

Stacheldraht gilt als Nachlass böser Zeiten. Vor 150 Jahren ließ ihn der US-Amerikaner Joseph Glidden patentieren, weil Holzzäune zu teuer geworden waren für die riesigen Viehherden im mittleren Westen. Bald richtete sich Gliddens Erfindung auch gegen Menschen: im Ersten Weltkrieg, um die feindlichen Linien draußen zu halten, in den Konzentrationslagern der Nationalsozialisten und den sowjetischen Gulags, um Juden und Roma und Zwangsarbeiter drinnen zu halten. Später wurde der Draht zum Symbol des getrennten Europas, spätestens mit dem Schengenabkommen und der Freizügigkeit innerhalb der EU wirkte Stacheldraht so gestrig wie die Idee einer physischen Grenze an sich.

Aber weg war er natürlich nie: Überall in der Welt entstehen neue Grenzanlagen. In den vergangenen rund 20 Jahren wurden mehr sogenannte „fortifizierte“, also mit Mauern, Zäunen, Stacheldraht oder Software zur Gesichtserkennung gesicherte Grenzen errichtet als in den fünf Jahrzehnten davor. An der US-Grenze zu Mexiko steht ein gebäudehoher stacheldrahtbewehrter Zaun, an manchen Abschnitten der Grenze zu Palästina hat Israel gleich ein halbes Dutzend Rollen hintereinanderlegen lassen. Und auch die Ränder der EU sind im Höchstmaß umzäunt: Spanien sperrt Marokko aus, Griechenland die Türkei, Polen Belarus, Finnland Russland. Hunderte Kilometer Stacheldraht sollen es Geflüchteten erschweren, nach Europa zu kommen. Wo ein Land endet und ein anderes beginnt, soll vielerorts wieder sichtbar werden und gern auch fühlbar.

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Natodraht

Der Draht heißt so, weil er vom NATO-Verbündeten USA nach Deutschland kam

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Efekan Dikici
Zaunkönig: Efekan Dikici kann pinkfarbene Gartenzäune oder einen Kilometer Stacheldraht beschaffen

Wie sieht einer wie Dikici, der mit dem Abgrenzen sein Geld verdient, diese Welt und ihre wachsende Begeisterung fürs Territoriale? Was für ein Geschäft ist der Handel mit Stacheldraht? Wir verabreden uns. Dikici freut sich auf das Gespräch, aber er zögert auch. „Nicht dass ich wie der letzte Warlord rüberkomme“, sagt er, grüßt aber zum Abschied fröhlich: „Tschu-tschu!“

Das Gelände von Mutanox liegt im Ortsteil Karlshorst, weder Stadtgrenze noch Berlin der Clubs und Szenen. Ein Gewerbegebiet, die Nachbarn: ein Landschaftsbaubetrieb und eine Wagensiedlung, die bald geräumt werden soll. „Zaun-Store“ steht groß auf der Fassade. Rechts von der Einfahrt ein Bürobungalow, vor dem bunte Musterzäune einen Kirschbaum einhegen. Dahinter das Lagergebäude. Überall stapeln sich Gittermatten. Auf der anderen Straßenseite werden Wohnungen gebaut. Womöglich steht bald der nächste Umzug an, erzählt Efekan Dikici. Seit fast 25 Jahren wandert Mutanox immer weiter an den Stadtrand, von Schöneberg nach Neukölln, jetzt hier in den Südosten der Stadt.

Sollte der Mann ein Warlord sein, ist er einer, der gerne lacht. „Die Presse will den NATO-Draht interviewen“, scherzt er mit seinen Angestellten. Dikici, Mitte 30, wirkt selbst am fasziniertesten von dem Geschäft, das er leitet: so viel Stahl, so viele Variationen! Richtig ins Schwärmen kommt er über Fangzäune für Bolzplätze oder die pinkfarbenen Zäune, die sie für Eigenheime sonderanfertigen.

2015 lehnte Mutanox einen Auftrag aus Ungarn ab: Der Stacheldraht sollte syrische Flüchtlinge aufhalten 

Zaunanlagen von Mutanox schützen heute die Baustellen von SuedLink, auf denen von Scheeßel bis Schweinfurt Höchstspannungsleitungen verlegt werden. Oder das Berliner Bundeskriminalamt. Viele Justizvollzugsanstalten in Deutschland und Österreich sind seit Jahren Kunden. Mutanox hat schon Bleche nach Uruguay geliefert und Maschendrahtzaun nach Haiti. Einmal war die Firma sogar ein Medienstar. Ausgerechnet, weil Mutanox mal nicht geliefert hat.

Herbst 2015, Höhepunkt der Fluchtbewegungen aus Syrien. Zu Zehntausenden versuchten Menschen, über den Balkan in die EU zu gelangen. Unter dem rechten Ministerpräsidenten Viktor Orbán wollte Ungarn das verhindern, indem es massiv Zäune baute. Über 175 Kilometer entstand an der Grenze zu Serbien in kürzester Zeit eine Anlage mit mehreren Schichten NATO-Draht. Nur kam der nicht aus Berlin: Murat Ekrek und Talat Deger, die Gründer von Mutanox, lehnten den Großauftrag ab. Sie verkauften ihren Stacheldraht auf der ganzen Welt, aber nicht, um ihn gegen wehrlose Menschen wie Kriegsflüchtende einzusetzen.

Dikici war damals für das Tagesgeschäft zuständig, zum Geschäftsführer wurde er erst später. Die Entscheidung hat er nur am Rande mitgekriegt. Heute müsste er sie fällen. Stachel- und NATO-Draht dürfen in alle Welt verkauft werden, der Handel fällt nicht unter das Kriegswaffenkontrollgesetz. Die meisten Aufträge seien eh harmlos, sagt Dikici. Cafés, Getränkegroßhändler oder Schrottplätze, die Einbrüchen vorbeugen wollen, eine Hausverwaltung, die eine Mauer im Innenhof bewehrt. „Aber Achtung“, Dikici hebt die Augenbrauen. „Wenn sich da jemand verletzt, und wenn es ein Einbrecher ist, kann man dafür angezeigt werden.“ Zumindest wenn man ihn nachlässig anbringt: Stacheldraht ist auf Privatgrundstücken nur dann legal, wenn er korrekt und mit Warnhinweisen angebracht ist.

Stacheldraht
Eigentlich komisch, überlegt Dikici: Da arbeiten so viele Menschen an etwas, mit Herz, Kopf und Seele, in riesigen Anlagen mit Feuer und Walzkräften von 10.000 Tonnen, „und am Ende kommt ein Draht raus, der macht dich zu Wurst“

Ob er Kunden schon mal vom Stacheldraht abgeraten habe, frage ich Dikici, aus moralischen Gründen? „Ganz ehrlich? Nein. Ich fühle mich zwar manchmal wie ein Waffenhändler. Aber dadurch, dass wir das wirklich nur Leuten verkaufen, die damit ihr Hab und Gut sichern wollen, habe ich ein reines Gewissen.“

In der staubigen Lagerhalle zeigt Dikici mir seinen Bestand. NATO-Draht in verschiedenen Durchmessern, zu mannshohen Rollen aufgetürmt. Um die 1.000 Rollen habe er immer auf Lager, sagt Dikici, das reicht für knapp zehn Kilometer Zaun.

Die großen Rollen sehen aus wie Siegerkränze beim Pferderennen, die kleinen sind nur von einer dünnen schwarzen Plastikhülle umgeben. An vielen Stellen ist sie aufgescheuert. Man sieht viele kleine Klingen mit noch mehr kleinen fiesen Widerhaken. Auch die Mitarbeiter von Mutanox verletzen sich regelmäßig daran, zerfetzen sich Schuhe und Arbeitskleidung und manchmal auch ihre Haut. Als ich mich den Drahtstapeln nähere, die mir bis auf Augenhöhe reichen, achte ich noch sorgfältiger darauf, nicht zu stolpern.

Viele kleine Klingen mit noch mehr kleinen Widerhaken

Eigentlich komisch, überlegt Dikici: Da arbeiten so viele Menschen an etwas, mit Herz, Kopf und Seele, in der Stahlindustrie, in riesigen Anlagen mit Feuer und Walzkräften von 10.000 Tonnen, „und am Ende kommt ein Draht raus, der macht dich zu Wurst“. Dikici lacht die Grausamkeit weg, er macht eine Geste: verdrehte Augäpfel, skurrile Verrenkungen. „Das denke ich mir auch bei Waffen, ehrlich. Die bestehen ja auch aus Stahl. Da stehen Leute, die produzieren etwas, das Menschen tötet. Das ist krass.“

Würde er es heute machen, würde er Ungarn beliefern? „Ich glaube nicht. Ich stelle mir immer vor, wie eine Frau mit Kindern durch den Draht will oder eine Oma, weil sie vor dem Krieg flüchten. Die können sich gar nicht vorstellen, wie doll das wehtut, da durchzukrabbeln.“

Das Bild scheint ihm sehr plastisch vor Augen zu stehen. Auch ich denke an ein Bild, aber in Schwarz-Weiß, von den Schützengräben des Ersten Weltkriegs, die mit Stacheldrahtverschlägen geschützt wurden. Angreifer verhedderten sich darin und wurden erschossen. Ihre toten Körper blieben in grotesken Stellungen hängen, weil es für beide Seiten zu gefährlich gewesen wäre, sie zu bergen. Manchmal ist die Welt von 1918 der von 2024 ähnlicher, als wir wollen.

Dabei ist Dikici gar nicht grundsätzlich gegen Grenzen. „Ich kann schon verstehen, dass man kontrollieren und regulieren will, wer durchkommt. Aber dann denk ich mir: Stell doch einen stabilen Bauzaun hin. Das schützt deine Grenze, tut aber niemandem weh. Stacheldraht gegen Menschen, die aus der Not kommen, finde ich scheiße.“

Dieser Text ist im fluter Nr. 90 „Barrieren“ erschienen

Es ist, wo wir hier so über Grenzen reden und wer sie passieren darf, nicht frei von Ironie, dass es die Firma Mutanox auch deshalb gibt, weil ihre Gründer in Deutschland viel Rassismus erlebt haben. Murat Ekrek und Talat Deger begegneten sich damals, weil sie als Menschen türkischer Herkunft in der Stahlbranche Außenseiter waren. Sie hatten keine Lust mehr auf die abwertenden Sprüche der Kollegen und taten sich zusammen.

Das kleine Team ist bis heute türkisch geprägt, es wirkt wie eine Familie. Als Dikici niest, ermahnt ihn der ältere Lagerarbeiter Mustafa väterlich auf Türkisch, sich doch bitte eine Jacke überzuziehen. „Ich kann mir vorstellen, dass einige Metallbauer, die bei uns kaufen, rechte Parteien wählen“, sagt Dikici. „Wenn die hier sind und unsere Buchhalterin mit Kopftuch ins Büro guckt, kommen schon mal Fragen: Das ist die Putzfrau, oder?“

Im Gehen kann ich es dann doch nicht lassen. Vorsichtig lege ich meinen Finger an eine der Klingen, die sich im Lager durch die Schutzhülle geschnitten haben. Es tut nicht weh, es fließt kein Blut. Aber ich erkenne den feinen Schnitt in den oberen Hautschichten. Er ist noch ein paar Tage zu sehen.

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