Meine Faszination für Grenzen hat zwei persönliche Gründe. Erstens: Ich war nie in meinem Leben in der DDR, erinnere mich aber, wie ich als Erstklässler vor der Europakarte an der Wand meines Zimmers stand und mir Fragen stellte. Wer hat eigentlich entschieden, dass die Grenze genau dort verlaufen soll? Und wer hat überhaupt entschieden, dass es eine Grenze innerhalb Deutschlands geben soll? Beides erschien mir abwegig.

Zweitens: Grenzen sind aus meinem Alltag weitgehend verschwunden. Innerhalb der EU sehe ich nur noch verwaiste Bauten der Grenzstationen aus den früher 80er-Jahren. Reise ich mit dem Flugzeug, bekomme ich das Überqueren von Staatsgrenzen überhaupt nicht mehr mit. Ich zeige am Zielflughafen nur noch kurz meinen Pass vor. Wann immer es sich anbot, habe ich deshalb Grenzen in meine Reisen eingebaut. Weil sie so selten geworden sind und weil das Prozedere der Kontrollen und die Gepflogenheiten an Grenzübergängen immer schon etwas über die Politik und Gesellschaft des Landes erkennen lassen, in das ich reise.

Brest (Polen – Weißrussland, 2011)

Mein letzter Halt in Richtung Weißrussland ist Terespol. Die EU hat in dieser kleinen ostpolnischen Stadt offenbar Geld in den Ausbau des Grenzbahnhofs investiert. Auf der anderen Seite des Bahnsteigs zerren Sicherheitskräfte der EU-Grenzschutzeinheit Frontex eine Frau aus dem Zug Richtung Warschau. Weinend schleift sie eine Zimmerpflanze und ihre Habseligkeiten in großen Plastiktaschen über den schmalen Bahnsteig.

Dann rollt mein Zug weiter nach Osten. Es geht vorbei an Sümpfen, Wiesen, Zäunen und schließlich über die Grenze – hinein nach Weißrussland, direkt in ein großes Werk, in dem die Waggons aufgebockt und sämtliche Fahrgestelle ausgewechselt werden. Hier endet das infrastrukturelle Westeuropa, es beginnt die russische Spurbreite für Züge. Eine gute Stunde später sinken die Wagen wieder auf die Schienen, die Fahrt geht weiter. In Brest halten ältere Frauen Körbe mit Bierdosen, Keksen und Selbstgebackenem unter die Fenster der Abteile.

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BELARUS/Weißrussland: Grenzposten an der EU-Außengrenze bei Brest (Foto: Vasily Fedosenko / REUTERS)

BELARUS/Weißrussland: Grenzposten an der EU-Außengrenze bei Brest

(Foto: Vasily Fedosenko / REUTERS)

Über den Río Usumacinta (Guatemala – Mexiko, 2003)

Natürlich gibt es den einfachen Weg: Er führt entlang der großen Straße, in einem klimatisierten Bus, direkt von Flores im Norden Guatemalas nach San Cristóbal de las Casas im Süden Mexikos. Aber es gibt eben auch die Variante, bei der man inmitten guatemaltekischer Bauern auf der Ladefläche eines Pick-ups sitzt und durch die brennende Hitze kutschiert wird. Klimatisierte Busse? Da hätte ich ja gleich in Deutschland bleiben können.

Der Fahrer heizt seit ein paar Stunden mit achtzig Sachen über die Schotterpiste, immer mehr Bauern steigen ab, und am Ende sitzen da nur noch ein älterer Mann, ein Hund und ich. Dann halten wir in Laureles, einem kleinen Dorf mit Tankstelle und einer Art Wendeplatte für Lkws. Am Ufer warten motorisierte Boote – ihr Rumpf ist aus einem einzigen Baumstamm gefertigt – sowie junge Männer mit schmutzigen Westen, zerschlissenen Jeans und wie in einem Gangsterfilm ins Gesicht gezogenen Hüten. Ich kann mir schwer vorstellen, dass sie ausschließlich auf Tourismus spezialisiert sind. 80 Quetzales und wenige Minuten über den Río Usumacinta, schon bin ich in Mexiko.

Am Ufer steht ein junger mexikanischer Soldat, dem ich meinen Pass hinhalte. Er zuckt mit den Schultern, schaut kurz in den Rucksack und sagt etwas, das ich nicht verstehe. Eine Woche später stellt sich heraus, dass ich in der nächstgrößeren Stadt Frontera Corozal die Behörden hätte aufsuchen müssen, um den obligatorischen Stempel abzuholen. Ich bin, ohne es zu wollen, illegal nach Mexiko eingereist. Und während das Reinkommen überraschend einfach war, wird die Ausreise zum Spießrutenlauf: Mit viel Flehen und Bitten bewege ich die Immigrationsbehörde in San Cristóbal de las Casas dazu, mir wenigstens ein Schreiben auszustellen, mit dem ich halbwegs legal ausreisen kann – und das ich auf dem Weg nach Mexiko City bei einem halben Dutzend Polizeikontrollen vorlegen muss, genau wie der sehr aufgeregten Frau am Schalter der Airline. Erst dann kann ich zurück nach Deutschland.

Fatima Gate, Kfar Kila (Libanon – Israel, 2006)

Die Blicke, die man sich einfängt, wenn man als Deutscher in einem koreanischen Mietwagen nach dem schnellsten Weg zur libanesischen Geheimpolizei in der Hafenstadt Tyros fragt: irre. Aber nur dort gibt es die Genehmigung, die man braucht, um in den von der schiitischen Hisbollah-Miliz dominierten Süden des Libanon zu fahren. Die Geheimpolizisten sind nett, warnen ausgiebig und händigen mir – auf eigene Gefahr – eine Genehmigung aus.

Zwei Stunden später stehe ich in Kfar Kila, einem kleinen Dorf an der Grenze zu Israel. Ein Supermarkt, ein Kiosk mit Hisbollah-T-Shirts, Anti-Israel-Stickern, Postkarten mit Motiven des Hisbollah-Generalsekretärs Scheich Nasrallah und noch mehr Propaganda-Touristenkitsch. Und dann stehen dort noch zwei massive, mehrere Meter hohe Steinsäulen; eine Installation, an der Besucher ihrem Unmut Ausdruck verleihen und Aggressionen abbauen können, indem sie die Säulen mit Steinchen bewerfen – symbolische Kiesel gegen Israel.

Hinter der Säule und hinter dem Kiosk steht ein fast drei Meter hoher Zaun aus Stacheldraht, dahinter ein Bunker der israelischen Armee, vermutlich bemannt, dahinter wiederum ein breiter Streifen mit Büschen und Panzersperren aus Stahl und Beton. Weit unten im Tal schließlich sieht man Metulla, eine strahlend weiße, sehr ordentliche Reihenhaussiedlung: lange gewundene Straßen, grüne Bäume, jedes Haus mit kleinem Garten und mit Parkplatz. Komplett unerreichbar. Passierbar ist dieser Grenzübergang nämlich nicht.

Qalandiya Checkpoint (Israel – Palästinensische Gebiete, 2010)

Qalandiya entspricht meinem Klischeebild eines israelischen Kontrollpunkts zum Westjordanland: ein Wachturm, viel Zaun und Stacheldraht und über allem eine haushohe Betonmauer, gegen die die Berliner Mauer wie ein Gartenzaun aussieht. Es ist vermutlich nicht unbeabsichtigt, dass ich mich sehr klein fühle. Klein und beobachtet. Am Damaskustor im Osten von Jerusalem bin ich in einen Bus gestiegen, durch die arabischen Vororte der Stadt gefahren. Mit mir im Bus sitzen viele Studenten und, für mich überraschend, Mädchen in kurzen Röcken auf dem Weg zur Universität in Ramallah. Die Fahrt dauert keine halbe Stunde, dann heißt es: alle aussteigen. Ein schmaler Gang zwischen massiven Gittern, überall Kameras, Anweisungen auf Schildern, schließlich eine Panzerglasscheibe. Eine Stimme aus dem Lautsprecher sagt: Bitte den Pass vorzeigen. Aber aller Psychologie und allem Beton zum Trotz: Es gibt ein Durchkommen. Und ein buntes, lautes Leben dahinter.

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Schlange stehen in Qalandiya: Palästinenserinnen wollen zum Freitagsgebet nach Jerusalem einreisen (Foto: Pavel Wolberg / dpa )

Schlange stehen in Qalandiya: Palästinenserinnen wollen zum Freitagsgebet nach Jerusalem einreisen

(Foto: Pavel Wolberg / dpa )

Kikinda (Serbien – Rumänien, 2012)

Der Nachtzug von Belgrad nach Bukarest ist gar kein Zug, sondern ein ganz normaler Reisebus. Die serbische Bahn hat die selten befahrene Strecke offenbar eingestellt, erst kurz vor der Grenze zu Rumänien stoppt der Bus an einem Bahnhof, und die wenigen Passagiere steigen tatsächlich in einen alten Bummelzug um. Die weinroten Kunstledergarnituren sind von Nähten und Schnitten übersät. Was immer über die Grenze gebracht werden soll – diese Polster waren schon oft ein bewährtes Versteck. Am letzten serbischen Bahnhof vor der rumänischen Grenze herrscht dann auf einmal große Aufregung: Die älteren, eher ärmlich gekleideten Damen, die kurz zuvor in großer Zahl zugestiegen waren, stehen auf und verlassen den Zug so plötzlich, wie sie gekommen sind. Wenige Augenblicke später betreten Frontex-Grenzsoldaten den Zug.

Bab al-Hawa Border Crossing (Syrien – Türkei, 2007)

Dass hier irgendwas nicht stimmt, hätte ich eigentlich schon beim Kauf der Tickets ahnen können – der Verkäufer war eindeutig zu nett, zu bemüht, fast ergeben. Außerdem: Eine Direktverbindung von Aleppo nach Istanbul, in nur 21 Stunden?

Um fünf Uhr morgens stehe ich also auf dem Busbahnhof von Aleppo. Ein einziger aus den 80er-Jahren stammender Bus steht da, es riecht nach Diesel und Müll, nach Nacht und Feuchtigkeit. Außer mir sind in diesem Bus: zwei junger Berliner, die zum Graffitisprühen in Aleppo waren und wirre Geschichten erzählen von Wholetrains und Raki, bis der Muezzin am Morgen schreit. Und ältere Frauen, viele ältere syrische Frauen. Der Beifahrer, der auch die Fahrscheine kontrolliert, geht kurz vor der Abfahrt durch den Bus, verteilt schwarze Plastiktüten im Staufach über unseren Köpfen. Dann montiert er einzelne Sitze ab, verstaut auch dort kleine Pakete, montiert die Sitze wieder. Dann fahren wir ab.

Knapp zwei Stunden später sind wir an der Grenze zur Türkei, einem unfassbaren Chaos aus Lkws und Reisebussen, die sich alle entlang einer staubigen Straße stauen. Unser Bus fährt an allen vorbei, die Grenzbeamten winken alle Passagiere durch. Fast alle: Die beiden Berliner und ich werden ausgiebig befragt, besonders von den türkischen Grenzbeamten. Zweieinhalb Stunden später kommt der Bus in Antakya an. Der Busfahrer schmeißt uns raus, drückt uns Bustickets nach Istanbul in die Hand und macht kehrt. Seine Aufgabe scheint erledigt. Dass der Bus nach Istanbul erst am Abend fährt, ist nicht sein Problem.

Ruo River (Malawi – Mosambik, 2008)

Der Busbahnhof in Blantyre im südlichen Malawi versinkt im Morast. Seit Tagen regnet es, der Boden ist aufgeweicht vom Niederschlag und den Reifen der asiatischen Kleinbusse, die hier fast im Minutentakt an- und abfahren. Hinter Mulanje verebbt der Verkehr nach und nach, bis der Bus die Grenzstadt Muloza erreicht, dauert es fast zwei Stunden. Von dort geht es weiter per Fahrradtaxi bis zur Grenze: ich und mein Rucksack auf dem gepolsterten Gepäckträger eines stoisch in die Pedale tretenden Teenagers. Die Grenzbeamten auf beiden Seiten sind nett bis gleichgültig, die Daten aus meinem Reisepass werden jeweils in einem absurd großen Buch vermerkt, dann die Stempel und: ab!

Auf der mosambikanischen Seite gibt es, jenseits der Grenzstadt, nichts. So gut wie keine Busse, keine einzige asphaltierte Straße, kein Strom. Ich werde fast einen gesamten Tag auf dem Beifahrersitz eines mit zwanzig Tonnen Tee beladenen Freightliner-Trucks verbringen, der über die Pisten und durch die vom Bürgerkrieg versehrten Dörfer rast, einmal durch den Tag und einmal durch die Nacht. Bis hin zum Indischen Ozean.

Daniel Erk arbeitet als freier Journalist in Berlin. Seine letzten Reisen gingen nach Georgien und Frankreich