Thema – Land

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Dorfsemester

Berlin, Paris, Rom? Statt in fremde Länder schicken spanische Unis ihre Studierenden jetzt auch in die Provinz – als Maßnahme gegen die Landflucht

Raquel Gómez

Ein Gruppe Kinder spielt Ball. Sie johlen, jauchzen und kreischen vor Freude, während sie sich gegenseitig mit der Schaumstoffkugel abwerfen. Der Kinderlärm ist eines von wenigen Geräuschen, die an diesem Julitag in Robledo zu hören sind. Das Dorf in Zentralspanien liegt an einer Landstraße, umgeben von weitem Himmel, Pistazien- und Mandelbäumen. Es ist so trocken, dass sich das Gras gelb gefärbt hat, durch das man hin und wieder den Wind rascheln hört.

Raquel Gómez Cejudo steht an den Zaun der Sommerschule gelehnt und passt auf, dass keines der Kinder das Gelände verlässt. Sie zählt, ob noch alle da sind. Der sechsjährige Martín und sein dreijähriger Bruder stehen bei der zehnjährigen Vanesa, die sich ansonsten kaum von Gómez’ Hand lösen lässt. Plötzlich läuft Gómez hektisch los. Die kleine Yolanda fehlt. „Du kannst nicht immer abhauen“, schimpft Gómez, als sie das Mädchen auf der staubigen Straße vor dem Zaun einfängt. Yolanda protestiert. „Ja, ich weiß, dass deine Eltern um die Ecke wohnen“, antwortet Gómez. „Das heißt trotzdem nicht, dass du einfach gehen kannst.“

Raquel Gómez ist als Erzieherin heute für acht Kinder zuständig. Dabei ist die 21-Jährige eigentlich Lehramtsstudentin in der nahe gelegenen Stadt Ciudad Real. Sie ist eine von mehreren Hundert Studierenden, die in diesem Jahr in Spanien am Erasmus Rural teilnehmen – einem Praktikumsprogramm, das Studierende genau wie das Original-Erasmus aus ihrer Heimat an fremde Orte führt: doch statt nach Deutschland oder Italien eben nach Loarre oder Robledo. Gemeinden in Spanien, die weniger als 5.000 Einwohner haben. Damit setzt die aktuelle Regierung seit 2021 im Zuge des „Plans der Erholung und Resilienz“ ein Zeichen gegen die Landflucht, die in Spanien vor mehr als 70 Jahren Einzug gehalten hat.

Erasmus

Andere feiern im Erasmus, Raquel spielt Ball

Seit dem Jahr 2000 haben fast 40 Prozent der spanischen Gemeinden mehr als 20 Prozent ihrer Einwohner verloren – und laufen Gefahr, bald nicht mehr zu existieren. Umgerechnet handelt es sich um mehr als 3.000 Gemeinden. Zum Vergleich: In Deutschland ist nur etwa ein Prozent der Gemeinden von Entvölkerung bedroht.

Robledo sei vergleichsweise noch ganz gut aufgestellt, sagt Bürgermeister Cristian Cuerda González. Der 26-jährige Informatikingenieur forscht an der Universität Kastilien-La Mancha. Das Amt des Bürgermeisters versieht er ehrenamtlich nebenbei. Eine Aluminium- und eine Flaschenfabrik böten Arbeit; die Einwohnerzahl liege seit mehreren Jahren beständig bei mehr als 300. „Allerdings im Sommer“, sagt Cuerda. „Im Winter gehen viele Menschen in die Städte, dann sind wir vielleicht noch 180 Leute hier.“

Als Cuerda an der Universität von dem Programm Erasmus Rural erfuhr, meldete er Robledo sofort an. „Wir müssen trotz allem immer etwas dafür tun, dass unser Dorf nicht von der Landkarte verschwindet.“

Zimmer finden? Auch hier nicht ganz einfach

Raquel Gómez ist bereits die zweite Studierende, die über das Programm nach Robledo gekommen ist. Eigentlich, erzählt sie, hatte eine Freundin sie auf die Idee gebracht. In der Freundesgruppe wollten sich alle zusammen bewerben. „Ich bin die Einzige, die es am Ende wirklich durchgezogen hat“, sagt sie. Als das Angebot für die Sommerschule in Robledo kam, habe sie eine Woche Zeit gehabt, sich zu entscheiden – mitten in der Prüfungsphase. „Irgendwann habe ich mir gesagt: ‚Was soll’s – du machst das jetzt einfach‘, habe mein Auto vollgepackt und bin hergekommen.“

Für 300 Euro im Monat mietete sie ein Haus mit vier Schlafzimmern in El Cubillo, einem kleinen Nachbardorf, das offiziell zu Robledo gezählt wird. Etwas anderes war nicht frei. Die weiß getünchten Häuser mit terrakottafarbenen Ziegeldächern tragen hier Namen, die in Lettern aus Mosaiksteinchen über der Eingangstür zu lesen sind: „Sotos luna“ – Mondscheinhain, heißt eines. Ein anderes weniger poetisch: „Alfonso“. Gómez ist im „Rinconcito“ eingezogen. Eine Verniedlichung des spanischen Wortes für Ecke.

Strasse

Westernsound an, Tumbleweed ab: So verlassen sind die Straßen in Spaniens Provinz

 

Drinnen sitzt Gómez auf einem alten Sofa mit mandalagemustertem Überwurf. Die Wände und Böden zieren die gleichen Mosaikmuster, aus denen die Schilder draußen gemacht sind. Blumen- und Landschaftsbilder in schweren Holzrahmen prägen das Wohnzimmer. Nur auf einem Hängeschrank blitzt es in Neon: Gómez hat ihre Feuerzeugsammlung aufgestellt: Totenköpfe auf Gelb, Peace-Zeichen auf Pink, Hanfblätter auf Schwarz. Ein bisschen Studentenbude im Landhausleben.

Am Anfang habe sie sich hier sehr allein gefühlt, sagt Gómez. Vor allem aber habe sie das Gerede der Leute gestört: „Jeder wusste von vornherein, wer ich bin. Ich war über Wochen die Hauptattraktion hier.“ Ihre Ansichten unterschieden sich von denen vieler Leute hier, die zum Stierkampf in die dorfeigene Arena gingen und mit ihren Tattoos wenig anfangen konnten. Auch von ihrer Universität fühlte sie sich alleingelassen: „Die Betreuung war minimal. Ich hatte zwar eine Tutorin, aber beim Einleben konnte sie mir auch nicht helfen.“

Einsamkeit sei beim Erasmus Rural eine der größeren Hürden, sagt Ángela González Moreno, Vizedirektorin für Innovation an der Universität Kastilien-La Mancha. Sie betreut das Programm an der Universität, die auch Gómez besucht. Deshalb wolle man in diesem Jahr versuchen, mindestens zwei Studierende gemeinsam in einem Ort unterzubringen. Insgesamt hält González das Programm allerdings für so erfolgreich, dass die Universität in diesem Jahr 100 Plätze statt der 56 aus dem vergangenen Jahr anbietet. „Zwei unserer Studierenden haben sich nach dem Praktikum in ihren Dörfern niedergelassen.“

Bar

Neue Freunde und eine Bar, die zumindest so tut, als wäre sie neu: Raquel in der einzigen Bar weit und breit, der „Bar nuevo“

 

González und Bürgermeister Cuerda sind sich in einem Punkt einig: Das Programm sollte ausgeweitet werden. Statt Lehramts-, Medizin- und Informatikstudierende bräuchte es eigentlich Elektriker, Handwerkerinnen und Tischler. „Für uns im Dorf wäre es deutlich interessanter, Auszubildende zu bekommen“, sagt Cuerda. Doch das Studierendenpraktikum sei ein erster Schritt in die richtige Richtung.

Gómez’ Gefühl von Einsamkeit hat nach dem ersten Einleben nachgelassen: Mit Irene Tébar, 25, und Elena Oliver, 33, sitzt sie draußen vor der einzigen Bar des Ortes, die den deshalb kuriosen Namen „Bar nuevo“, zu Deutsch „Neue Bar“, trägt. Der Wirt, den jeder hier nur Antonio nennt, grüßt alle mit Vornamen.

Tébar arbeitet wie Gómez an der Schule, Oliver leitet die kleine Bibliothek, die daneben liegt. In deren Regalen sind unter anderem die DVDs von „In einem Land vor unserer Zeit“ und „Asterix – Sieg über Cäsar“ zu finden – einmal die Woche kommt ein Buchclub zusammen. Für die Älteren gibt es einen Computerkurs an den alten Rechnern in der Ecke. Tébar und Oliver waren froh, endlich einen weiteren jungen Menschen im Dorf zu haben.

Die letzten drei Monate saßen die drei meist nach der Arbeit in der Bar, die sonst nur von Arbeitern aus den Fabriken und einigen älteren Stammkunden besucht wird. Heute ist Gómez’ letzter Abend. Dann kehrt sie in die Stadt zurück, in ihre WG, die sie mit ihrem besten Freund teilt.

Gómez freut sich, endlich in die Stadt zurückzukommen. Aber am Ende ist sie froh, das Leben auf dem Land in Spanien kennengelernt zu haben. „Der Zusammenhalt zwischen den Generationen ist extrem stark.“ Ob sie sich vorstellen könnte, in Zukunft auf dem Land zu leben? Gómez schüttelt lachend den Kopf. Als Nächstes will sie erst mal nach Irland. Ein richtiges Auslandssemester erleben.

Dieser Text wurde veröffentlicht unter der Lizenz CC-BY-NC-ND-4.0-DE. Die Fotos dürfen nicht verwendet werden.