Thema – Political Planet

Suchen Newsletter ABO Mediathek

Powerless

Die Cañada Real ist die größte illegale Siedlung Europas. Seit anderthalb Jahren leben dort Tausende Menschen ohne Strom

Cañada Real

Wir können uns darauf verlassen, dass es in unseren Wohnungen und Häusern nicht nur im Sommer, sondern auch im Winter warm und hell ist. Die Bewohner der Cañada Real nicht: Zwei bitterkalte Winter haben sie schon hinter sich. Im Oktober 2020 fiel plötzlich der Strom in Teilen der Siedlung aus – und sprang erst mal nicht wieder an. Um die 4.000 Menschen, darunter viele Kinder, lebten fortan ohne Stromversorgung.

canada_real_3.jpg

Cañada Real
Zwei Teenager beobachten eine Razzia

canada_real_12.jpg

Cañada Real
Folge dem Licht: In anderen Sektoren gibt es immerhin Strom

canada_real_1.jpg

Blick auf Sektor 6 der Cañada Real, im Hintergrund Madrid
Eine Stadt vor der Stadt, aber alles andere als eine Vorstadt: Die Cañada Real liegt vor Madrid. Und Sektor 6, der hier zu sehen ist, im Dunkeln

Die Siedlung befindet sich südöstlich der spanischen Hauptstadt Madrid. Sie erstreckt sich 14 Kilometer entlang der Cañada Real Galiana, einer der alten Viehtriebstrecken, die im mittelalterlichen Spanien per königlichem Dekret verwaltet wurden.

Seit Ende der 50er-Jahre wurde die Strecke besiedelt, anfangs nur mit provisorischen Hütten, heute gibt es je nach Sektor auch voll ausgebaute Einfamilienhäuser mit echten Strom- und Wasserleitungen. Nur floss der Strom nie offiziell – die Cañada Real ist die größte informelle Siedlung Europas, also offiziell illegal.

canada_real_6.jpg

Cañada Real
Matilde (53), Enkel Adonay (2), Sohn Antonio (37) und Ehemann Agustin (54) wohnen in Sektor 6 – und schon lange in der Cañada Real. „Meine Söhne wurden hier geboren, sie haben hier geheiratet. Die Regierung hat uns hier vergessen. Wir sind in Madrid. Wie kann das sein? Einer meiner Söhne hat eine Behinderung. Sein elektrischer Rollstuhl muss aufgeladen werden“, sagt Augustin

Das Land, auf dem die Häuser stehen, ist unveräußerliches Land im Gemeinbesitz. Über 8.000 Menschen, viele von ihnen Roma oder marokkanischer Herkunft, wohnen hier in sechs Zonen, die aus Verwaltungszwecken eingeführt worden sind. Zone 5 und 6 sind vom Stromausfall betroffen.

canada_real_17.jpg

Cañada Real
Amalia (62) und ihr Ehemann wärmen sich am Ofen auf – im Dunkeln

canada_real_8.jpg

Cañada Real
Die meisten Familien in Sektor 6 benutzen Generatoren, um Strom zu erzeugen. Manche auch Solarpanels

Zone 6 gilt als die ärmste und hat einen besonders zweifelhaften Ruf: Die spanische Presse nennt sie den „größten Drogen-Supermarkt Europas“. Laut dem verantwortlichen Anbieter Naturgy sollen Cannabisplantagen den Stromausfall ausgelöst haben: Ihre Betreiber sollen Leitungen angezapft und so viel Strom verbraucht haben, dass das Netz kollabiere. Dass solche Plantagen existieren, bestreiten die Bewohner der Cañada Real gar nicht. Nur bezweifeln sie, dass sie wirklich für den Stromausfall verantwortlich sind. Sie vermuten, der Strombetreiber habe die Leistungsfähigkeit absichtlich heruntergesetzt, um den Stromausfall zu provozieren und sie so zu vertreiben.

Canada Real
Wo ist der Real Shit? Auf der Suche nach den Cannabisplantagen, die für den Stromausfall verantwortlich sein sollen, führt die Polizei eine Razzia durch

Nachdem die Siedlung immer wieder Negativschlagzeilen machte und sich sogar die UN einschaltete, wurde eine interministerielle Kommission gegründet, die das Dilemma lösen sollte. Nun soll das spanische Verkehrsministerium zusammen mit den Gemeinden Rivas und Coslada und der Stadt Madrid einen Plan aufstellen, der mehr als 2.000 gefährdete Familien aus den Sektoren 5 und 6 dauerhaft umsiedelt.

canada_real_5.jpg

Cañada Real
Isidro Fernandez (87) lebt seit mehr als 20 Jahren in der Cañada Real. Nachts heizt er mit einem Feuerofen: Der Generator ist ihm beim Schlafen zu laut

canada_real_10.jpg

Cañada Real
Hier stand mal ein Haus: 130 Familien wurden bereits aus Sektor 6 der Cañada Real umgesiedelt. Weitere 160 sollen folgen

Doch das geht nur schleppend voran: Ende April demonstrierten mehrere Hundert Bewohner der Cañada Real unter dem Motto „Luz, contratos y mesa de seguimiento“ – sie fordern Strom und wollen über die Zukunft der Cañada Real und die Verträge mit dem Stromanbieter mitbestimmen. Obwohl viele Haushalte ordentlich an das Netz angeschlossen sind, müssen sich die Bewohner von Sektor 5 derzeit mit der Nutzung abwechseln, weil das Netz weiterhin instabil ist. In Sektor 6 ist das Licht seit eineinhalb Jahren ganz aus.

canada_real_11.jpg

Cañada Real
Rosario (81) und Mari (79) wohnen seit 1974 in Sektor 5. Mari ist Diabetikerin, ihr Insulin muss im Kühlschrank gelagert werden. Wenn der Strom ausfällt, wissen die beiden nicht, wie lange das Insulin seine Wirkung behält. „Ich bin alt und krank“, sagt Mari. „Ich habe bei der zuständigen Stelle in Madrid angerufen und gefragt, ob sie mir einmal die Woche jemanden vorbei schicken, der mir hilft. Sie sagten: ‚Ja, nächsten Monat kommt jemand.‘ Dann erst sagte ich ihnen, wo ich wohne. Es kam nie jemand.“

Titelbild: Isabel Fernández (80, links), lebt seit 18 Jahren in der Cañada, Ivan (23), Yané (19), Adara (2) und Jose Antonio (5) seit 2012.

Dieser Text wurde veröffentlicht unter der Lizenz CC-BY-NC-ND-4.0-DE. Die Fotos dürfen nicht verwendet werden.