fluter.de: Herr Brox, in Ihrem Buch schreiben Sie viel von Ihrer Leidenschaft für das Schachspielen. Welche ist Ihre Lieblingseröffnung?
Mit Weiß halboffen, mit Schwarz sizilianisch, gerne aber auch indisch. Schach ist Gehirnfutter für mich. Wenn ich früher in eine Stadt kam, suchte ich nicht nur nach einem Schlafplatz, sondern meist auch nach einem Schachklub.
Sie wohnen im Moment in einer Wohnung in Köln. Vermissen Sie das Leben auf der Straße manchmal?
Ich habe gelernt, das Berberleben zu lieben. Das ist Teil meiner Identität. Ich habe so viele Jahre auf der Straße gelebt, war deutschlandweit unterwegs – das streift man nicht von heute auf morgen ab. Das geht vielen so, die von der Straße kommen und dann wieder in einer Wohnung leben. Dort habe ich nicht mehr das Gefühl des Freiseins.
Sie bezeichnen sich selber als Berber. Was ist das?
Ein Berber ist ein Durchreisender ohne festen Wohnsitz. Wie ein Eremit, der an der Gesellschaft vorbeilebt, aber mit ihr mitlebt. Er meidet die Massen und verfügt über wertvolles Wissen über die Straße und lernt andere an. Informationen sind überlebenswichtig, wenn du obdachlos bist. Deswegen habe ich 2001 einen Blog gestartet, um dieses Wissen mehr Menschen zugänglich zu machen. Wo sind die besten Notschlafstellen, welche Unterkunft ist besonders schlimm? Zum Berber-Kodex gehört auch, nicht alkohol-, drogen- oder glücksspielabhängig zu sein.
Wie sind Sie obdachlos geworden?
Im April 1986 ließ das Sozial- und Wohnungsamt die Wohnung meiner Eltern räumen. Meine Mutter war wenige Monate vorher gestorben. Ich hatte damals schwere gesundheitliche Probleme. Seit ich 13 war, nahm ich Kokain. Die Abhängigkeit hatte mit dem Tod meines Vaters begonnen. Nun stand ich mit 21 Jahren ohne Wohnung da, alles, was mir blieb, waren zwei Plastiktüten mit Sachen. In der selben Nacht ging ich zur Notübernachtung in Mannheim und wurde dort bestohlen. Da begann ich bei null. Mein Hab und Gut bestand nur noch aus den Klamotten, die ich gerade am Leib trug. Dass die Obdachlosigkeit so lange andauern würde, hätte ich niemals gedacht. Manchmal sage ich mir: Ich habe das von meinen Eltern vererbt bekommen. Sie hatten auch ein Leben auf der Flucht. Sie wurden von den Nazis verfolgt, meine Mutter war im KZ.
Wurde Ihnen von den Ämtern nicht geholfen?
Mit dem Sozial- und Gesundheitsamt hatte ich am Anfang noch einigen Kontakt. Mir wurde aber jede Hilfe verwehrt. Sie haben in meinem Fall total versagt. Die Sachbearbeiter hatten kein Verständnis für einen wie mich. 1989 war ich dann in Langzeittherapie. Das hat mir das Leben gerettet. Seitdem bin ich drogenfrei und Nichtraucher.
Von solchen Leidensgeschichten und familiären Schicksalsschlägen können sicher viele Obdachlose berichten.
Ja, Familientragödien sind definitiv der Hauptgrund für Obdachlosigkeit. Das können Scheidungen oder der Tod des Partners oder eines Kindes sein. Daran erkranken viele Menschen psychisch und landen auf der Straße. Manche hatten auch eine insolvente Firma und dann so viele Schulden, dass es mit allem bergab ging. Mir sind Obdachlose aus vielen gesellschaftlichen Schichten begegnet.
In Deutschland hat sich die Zahl der Obdachlosen in den letzten zwei Jahren um 13.000 erhöht. Schätzungen zufolge leben heute ca. 50.000 Menschen auf der Straße. Was hat sich am Leben auf der Straße in den letzten 30 Jahren geändert?
Ein großer Einschnitt war die Einführung von Hartz IV. In der Folge hat sich die Armut schleichend und konsequent ausgebreitet. Hartz IV ist meiner Meinung nach dafür verantwortlich, dass die Obdachlosigkeit in den letzten Jahren stark zugenommen hat. Außerdem herrscht mehr Neid und Konkurrenz unter den Obdachlosen. Hartz IV hat mehr soziale Kälte in die Gesellschaft gebracht. Ein anderes Problem ist, dass Kommunen die Flüchtlinge bei der Wohnungsvergabe oftmals bevorzugen.
Das ist ein Argument, das auch Rechte gerne benutzen.
Das mag sein, aber viele Leute auf der Straße haben eben das Gefühl, dass Ämter Flüchtlinge bei der Wohnungsvergabe bevorzugen. Dadurch herrscht Unmut unter den Menschen, die in dem Ort schon länger leben und keine Wohnung haben. Dieses Denken ist natürlich ein Fehler. Alle Menschen haben gleichermaßen Hilfe verdient. Wir dürfen uns nicht gegeneinander ausspielen lassen. Trotzdem: Es muss zwischen Wohnungslosen, die keine feste Bleibe haben, aber in einem Wohnheim oder einer Sammelunterkunft unterkommen, und Obdachlosen, die wirklich auf der Straße leben, unterschieden werden. Da ist mir auch egal, ob es ausländische oder deutsche Obdachlose sind.
Wohnungslose und Obdachlose
Es wird zwischen Obdachlosigkeit und Wohnungslosigkeit unterschieden. Obdachlose haben weder Wohnsitz noch Unterkunft und müssen im öffentlichen Raum, in Parks oder Bahnhöfen übernachten. Wohnungslose haben zwar keinen eigenen Mietvertrag, übernachten aber regelmäßig in kommunalen Einrichtungen, Notunterkünften, Flüchtlingsheimen oder in Einrichtungen der Wohnungslosenhilfe. Die Wohnungslosigkeit hat in Deutschland in den letzten Jahren stark zugenommen. Von 2014 bis 2016 stieg die Zahl der Wohnungslosen von 335.000 auf 860.000. Grund dafür sehen Experten in den steigenden Mieten und dem Mangel an Sozialwohnungen, die gerade von geflüchteten Personen gebraucht werden. Obdachlos sind Schätzungen zufolge derzeit 52.000 Menschen, 13.000 mehr als noch vor zwei Jahren.
Die Erlöse aus den Verkäufen Ihres Buches wollen Sie spenden. Warum behalten Sie sie nicht einfach selbst?
Ich kenne den Geruch des Geldes und habe gemerkt, dass es mir nicht wichtig ist. Ich baue gerade eine Initiative auf, die sterbenskranke Obdachlose begleitet. Bisher gibt es für diese Fälle keine Hospize. Viele Obdachlose sterben einsam im Krankenhaus, oftmals in jungen Jahren. Drei meiner Brüder sind in den letzten vier Jahren gestorben. Ein solches Hospiz hätten sie sich gewünscht.
Sie waren Brüder im Geiste? Oder Angehörige?
Auf der Straße gibt es keine Freunde. Nur Kollegen und Brüder. Mit Brüdern teilt man das letzte Stück Brot, die Einsamkeit am Tag und die Kälte. Man macht Pläne zusammen, reist ein paar Wochen gemeinsam.
Wie oft geben Sie eigentlich Bettlern etwas Geld?
Ich gebe einmal am Tag demjenigen etwas, bei dem ich das Gefühl habe, dass er am notleidendsten ist. Im Moment kriege ich Hartz IV und habe weniger als zehn Euro pro Tag zum Leben. Als ich noch Sitzung mit einem Schild „Bitte um eine milde Gabe“ machen musste, war ich immer froh über einen warmen Kaffee im Winter oder einen Eintopf. Jetzt, als „Geber“, frage ich die Leute gerne, womit ich ihnen eine Freude machen kann. Die Leute teilhaben zu lassen und mit ihnen zu reden ist wahnsinnig wichtig.
Fotos: Tim Ilskens