Fast ein Viertel aller Frauen in Deutschland hat mindestens einmal im Leben häusliche Gewalt erlebt – trotzdem wird das Problem vom Umfeld selten erkannt, und noch seltener kommt es zur Anzeige. Das Social-Start-up Frontline möchte daran etwas ändern und bietet Trainings an, in denen Beschäftigte und Führungskräfte lernen, wie sie Anzeichen für Partnerschaftsgewalt bei KollegInnen erkennen und wie sie diese effektiv unterstützen können.

fluter.de: Mal etwas naiv gefragt, warum braucht es überhaupt ein Start-up wie Frontline? Eigentlich ist doch in erster Linie die Polizei zuständig für Opfer von Partnerschaftsgewalt.

Lena Wagner: Ja, aber meist erst, wenn die Gewalt schon so eskaliert ist, dass sich Betroffene in einer Krise befinden. Wir fragen uns stattdessen: Wie können wir so früh wie möglich die Gewaltspirale unterbrechen? Partnerschaftsgewalt beginnt eigentlich nie mit einem Schlag. Es ist ein Muster von Macht, Kontrolle und Dominanz, das durch Drohung, Angst und Demütigung aufrechterhalten wird. Das muss zunächst keine körperliche Gewalt beinhalten, es endet aber in vielen Fällen genau damit. Auch deshalb ist es so wichtig, so früh wie möglich einzuschreiten.

Dennoch würde man ja denken, dass sich Betroffene in solchen Fragen Personen aus ihrem Freundeskreis offenbaren. Eure Trainings richten sich jedoch in erster Linie an Arbeitgeber und Unternehmen.

Damit Betroffenen so früh wie möglich geholfen wird, müssen die Institutionen, die am häufigsten in Berührung mit ihnen sind, in der Lage sein, Warnzeichen zu erkennen und entsprechend darauf zu reagieren. Und eine dieser Institutionen ist nun mal der Arbeitgeber. Zudem kann häusliche Gewalt auch mit enormen Kosten und Risiken für Arbeitgeber verbunden sein, und es macht daher aus Unternehmensperspektive auch wirtschaftlich gesehen Sinn, Mitarbeitende dahin gehend zu unterstützen. Gleichzeitig möchten wir ein Signal setzen: Wir wollen weg von dieser Überlastung der Not- und Krisendienste wie Polizei und Frauenhäusern, hin zu einer zivilgesellschaftlichen Mitverantwortung, die eben auch Arbeitgeber mittragen.

Was ist der Unterschied zwischen häuslicher Gewalt und Partnerschaftsgewalt?

Häusliche Gewalt bezeichnet allgemein Gewalttaten zwischen Menschen, die in einer häuslichen Gemeinschaft leben oder lebten. Partnerschaftsgewalt ist streng genommen eine Unterform und bezieht sich auf Gewalt in einer Ehe, Lebenspartnerschaft oder intimen Beziehung. Es ist die häufigste Form von häuslicher Gewalt.

In Deutschland wird bis jetzt nur eine sehr begrenzte rechtliche Definition von häuslicher Gewalt verwendet.

Genau, beziehungsweise gibt es streng genommen keine rechtliche Definition von häuslicher Gewalt. Deswegen sind fast alle Fälle, die nicht schwere körperliche Gewalt darstellen, nur unzureichend rechtlich abgedeckt. In Deutschland kannst du nicht zur Polizei gehen und jemanden wegen „häuslicher Gewalt“ anzeigen. Du kannst jemanden wegen Körperverletzung, Freiheitsberaubung oder Nötigung anzeigen, aber all diese Delikte werden verschieden verfolgt und auch unterschiedlich bewertet. Durch diese isolierte Betrachtung wird nicht genügend anerkannt, dass Partnerschaftsgewalt ein Muster ist und eben nicht „nur“ dieser eine Schlag.

Was wäre ein typisches Verhaltensmuster für Partnerschaftsgewalt?

Psychische Gewalt ist  eine häufig vorkommende Art von Partnerschaftsgewalt. Das kann schon der Fall sein, wenn dein Partner oder deine Partnerin dir ständig das Gefühl gibt, nicht genug zu sein, dich gegenüber anderen abwertet oder deine Ansichten ständig infrage stellt. Eine andere Form wäre finanzielle Gewalt: Wenn der Partner oder die Partnerin einen darin beeinträchtigt, Geld zu verdienen, zu verwenden oder zu erhalten – zum Beispiel durch ein gemeinsames Familienkonto, auf das nur die missbräuchliche Person Zugriff hat.

„Plötzlich sehr bedacht darauf zu sein, pünktlich zu gehen, kann ein Signal sein – oder, im Gegenteil, wenn der Feierabend hinausgezögert wird“

Seit der Corona-Pandemie arbeiten die Menschen viel mehr von zu Hause aus. Was bedeutet das für eure Arbeit?

Sie ist umso wichtiger geworden. Für viele Betroffene ist einer der wenigen Orte, an denen sie der Gewalt entkommen konnten, weggefallen. Im Gespräch mit Frauenhäusern haben wir oft gehört, dass die Zahl der Hilfesuchenden seit der Pandemie zunächst abgefallen und dann schlagartig gestiegen ist, weil Betroffene für eine Weile keine Möglichkeit hatten, sich zu melden und vorbeizukommen. Auch wir konnten in eigenen Umfragen feststellen, dass sich während der Lockdowns extrem viele Betroffene an ihre Kollegen oder Kolleginnen gewandt haben – sogar häufiger als an die Polizei, den Gesundheitssektor oder spezialisierte Einrichtungen.

Noch nie von Gaslighting & Love Bombing gehört?

Gaslighting bedeutet, eine Person so zu manipulieren, dass sie eine falsche Darstellung der Realität akzeptiert und/oder an ihrer eigenen geistigen Gesundheit zweifelt. Beim Love Bombing wird die Partnerin bzw. der Partner oft schon kurz nach dem ersten Kennenlernen mit Liebesbekundungen überschüttet mit dem Ziel, die andere Person an sich zu binden und Kontrolle und Macht über sie zu erlangen.

„Gaslighting“ oder „Love Bombing“, Begriffe, die auch ihr benutzt, sind seit einiger Zeit in aller Munde. Gerade junge Menschen tauschen sich auf TikTok und Co. über diese Formen psychischer Gewalt aus. Werden wir sensibler bezüglich Partnerschaftsgewalt?

Ich glaube, dass viele heutzutage ein bisschen weniger um den heißen Brei herumreden, wenn sie sich Hilfe suchen. Tendenziell scheinen jüngere Leute etwas sensibilisierter für dieses Thema zu sein – gleichzeitig konnten wir in eigenen Erhebungen feststellen, dass Partnerschaftsgewalt unter ihnen viel verbreiteter ist als unter älteren Menschen. Unsere Studien deuten auch auf eine höhere Akzeptanz von Gewalt unter jüngeren Menschen. Es ist also definitiv kein Problem, das einfach so mit der Zeit aussterben wird. 

Fällt es jungen Menschen manchmal schwer, problematische Situationen zu erkennen, weil ihnen noch die Lebenserfahrung fehlt?

Bei subtileren Gewaltformen braucht es möglicherweise tatsächlich ein wenig Erfahrung, um sie zu erkennen. Als ich zum Beispiel selbst noch Teenager war, erschien es als relativ normal, wenn jemand seinen Freund zwang, alle anderen Mädchen aus dem Handy zu löschen. Ein anderer wichtiger Faktor sind Ressourcen. Junge Menschen haben oft nicht die Mittel, um sich aus problematischen Beziehungen zu befreien. Und wenn du an so eine Situation gebunden bist, rechtfertigst du es irgendwie für dich selbst. Aber natürlich kann man das nicht generalisieren, große Teile der jungen Generation sind sehr aufgeklärt, was Liebe und gesunde Beziehungen angeht.

Was für Warnsignale lernt man in euren Trainings kennen?

Dazu muss ich zunächst sagen, es gibt kein absolut verlässliches Signal – als Erstes sollte man sich immer den Kontext bewusst machen. Ein Beispiel wäre jedoch, wenn ständig das Handy bimmelt, weil die Person pausenlos mit Nachrichten und Anrufen bombardiert wird. Oder wenn sich die Person von einem auf den anderen Tag völlig anders kleidet oder schminkt, möglicherweise um Verletzungen zu überdecken. Auch plötzlich sehr bedacht darauf zu sein, pünktlich zu gehen, kann ein Signal sein – oder, im Gegenteil, wenn der Feierabend hinausgezögert wird.

„Partnerschaftsgewalt ist nach wie vor sehr tabuisiert und von Mythen umrankt“

Wenn sich langsam der Verdacht erhärtet, eine MitschülerIn, KollegIn oder KommilitonIn könnte Opfer von Partnerschaftsgewalt sein – wie geht man damit am besten um?

Als Erstes sollte man sich fragen: Bin ich überhaupt die richtige Person für dieses Gespräch, besteht ein Vertrauensverhältnis? Macht es vielleicht Sinn, noch jemand anderes hinzuzuziehen? Dann ist es wichtig, offen und empathisch in das Gespräch zu gehen und anzusprechen und zu problematisieren, was man beobachtet hat. Zum Beispiel sagen, dass es nicht okay ist, wenn dein Partner von dir erwartet, immer und überall erreichbar zu sein, ohne Rücksichtnahme auf Arbeit und Freizeit. In einem Guide haben wir unter anderem einige Hilfestellungen für ein solches Gespräch zusammengestellt.

Ist es nicht selbstverständlich, seine Mitmenschen auf solche Dinge anzusprechen?

Das wäre wünschenswert, aber Partnerschaftsgewalt ist nach wie vor sehr tabuisiert und von Mythen umrankt. Klassischerweise wird Betroffenen selbst die Schuld gegeben, wenn zum Beispiel Sätze fallen wie: „Wenn sie ihn nicht so provozieren würde, dann würde er auch nicht so ausrasten“ oder: „Warum geht sie denn dann nicht einfach? An ihrer Stelle würde ich mir das niemals gefallen lassen.“ Abgesehen davon ist es vor allem Unsicherheit – man möchte niemandem auf den Schlips treten.

Welchen Rat würdest du Verunsicherten mitgeben?

Lieber einmal zu oft fragen als einmal zu wenig. Wenn man sich mal anschaut, wie viele Frauen jährlich von ihrem Partner oder Expartner ermordet werden, kann das im Zweifelsfall zwischen Leben und Tod entscheiden.

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Lena Wagner (Foto:  Yannes Kiefer)
(Foto: Yannes Kiefer)

Lena Wagner ist Politikanalystin und studierte Public Policy an der Berliner Hertie School. Zusammen mit früheren KommilitonInnen gründete sie 2021 das Social-Start-up Frontline, um den Umgang mit Partnerschaftsgewalt in Deutschland neu zu denken.

 

Das bundesweite Hilfetelefon richtet sich an Frauen, die Gewalt erfahren haben, aber auch Angehörige sowie Freunde und Freundinnen werden anonym beraten. Ihr erreicht es jederzeit und kostenfrei unter 08000 116 016. Das Hilfetelefon Gewalt gegen Männer erreicht ihr unter 0800 123 9900.

Titelbild: Susan Meiselas / Magnum Photos / Agentur Focus