„Da hinten fing die Polizei an, in die Luft zu schießen“, sagt Wendy Galarza. Sie deutet in Richtung einer Ecke auf einem zentralen Platz in der Innenstadt von Cancún, einem beliebten Urlaubsort im Südosten Mexikos. Die Aktivistin nahm am 9. November 2020 an einer Demonstration teil. In Quintana Roo, dem Bundesstaat, in dem Cancún liegt, war die Zahl der Femizide zuvor stark angestiegen. Um ihrer Wut und Trauer Ausdruck zu verleihen, zog es Wendy gemeinsam mit anderen Demonstrant:innen auf die Straße. Doch sogar dort erfuhren die Frauen Gewalt. „Irgendwann schossen sie dann auch in die Menge“, erzählt Wendy. Erst später bemerkte sie, dass umherfliegende Kugeln sie am Bein und am Bauch getroffen hatten.
Wendy beschreibt, wie sie gemeinsam mit ihrem Partner versuchte zu flüchten. Sie wollten mit ihrem Motorrad wegfahren, doch ein Polizist kam von hinten angerannt und trat ihnen in die Beine, sodass sie beide stürzten. Als sie bereits auf dem Boden lagen, schlugen er und weitere Polizisten auf sie ein. Wendy zeigt ein Video, in dem zu sehen ist, wie einer von ihnen sogar einen Schlagstock verwendet: „Es war schlimmer, als Worte beschreiben können.“
In Mexiko nimmt die Gewalt gegen Frauen seit Jahren zu. Allein zwischen 2015 und 2019 stieg die Zahl der Frauenmorde um 137 Prozent. Täglich werden in Mexiko etwa 94 Menschen ermordet. Im Jahr 2021 wurden insgesamt 34.312 Morde verübt; ein großer Teil davon ist kriminellen Banden zuzuordnen. Im Schnitt gehören täglich auch zehn Frauen zu den Opfern. Dass auch staatliche Sicherheitskräfte tödliche Gewalt anwenden, ist keine Seltenheit. Nur ein Viertel der Frauenmorde wird offiziellen Angaben zufolge als Femizid anerkannt, also als Mord, der aufgrund des Geschlechts verübt wird. Das liegt auch an der Haltung der Regierung: Der mexikanische Präsident selbst diskreditierte pauschal alle Proteste der Frauen, weil es dabei in der Vergangenheit auch gewaltsame Ausschreitungen gab. Die hohe Mordrate an Frauen spielte er herunter – und nur ein Bruchteil der Morde wird von den Behörden aufgeklärt.
„Mein komplettes Leben dreht sich um den 9. November“, sagt Wendy. Weil es keine Konsequenzen für die Polizisten gab, fühle sie sich seit dem Vorfall noch unsicherer auf der Straße als zuvor. Nach Sonnenuntergang gehe sie kaum noch vor die Tür und wenn doch, schreibt sie ihren Freund:innen vorher, wo sie hingeht. Nachts habe sie häufig Albträume und tagsüber noch immer Beschwerden wegen der Schussverletzungen. „Früher bin ich viel Fahrrad gefahren, das kann ich mittlerweile nicht mehr so wie früher“, sagt Wendy. Sie nehme noch immer drei Schmerztabletten täglich, sagt sie Mitte Februar beim Interview in Cancún.
Laut Tania Turner von der mexikanischen Frauenrechtsorganisation Fondo Semillas mache ein Mix aus verschiedenen Faktoren das Leben für Frauen in Mexiko so gefährlich. Dieser Mix bestehe zum einen aus der wachsenden wirtschaftlichen Ungleichheit sowie der Drogenkriminalität, die das Land nicht unter Kontrolle bekomme. Zum anderen trage auch die sogenannte Machismo-Kultur zur Gewalt gegen Frauen bei. „Viele Menschen in Mexiko sind nach wie vor der Meinung, dass Frauen weniger wert sind, dass sie ihr Leben nach ihren Männern auszurichten und sich zu Hause um Haushalt und Kinder zu kümmern haben“, erklärt Turner.
„Viele Frauen hierzulande haben durch den weltweiten Austausch mit Feministinnen online gemerkt, dass Gewalt alles andere als normal ist und sie ihre Stimme erheben und aktiv werden können“
Viele seien zudem mit Gewalt aufgewachsen, mussten dabei zusehen, wie ihre Mütter von ihren Vätern misshandelt wurden. „Deswegen glaubten viele Frauen über Jahrzehnte, dass Gewalt ganz normal und Teil ihres Lebens sei“, sagt Turner. Doch diese Haltung habe sich in den letzten Jahren geändert.
„Die Frauenrechtsbewegung hat unglaublich an Fahrt aufgenommen“, sagt Turner. Die junge Generation verbünde sich mit alteingesessenen Feministinnen und kämpfe gemeinsam auf der Straße gegen das Unrecht, das Frauen in Mexiko widerfahre. Doch nicht nur die zunehmende Gewalt habe dazu beigetragen: „Viele Frauen hierzulande haben durch den weltweiten Austausch mit Feministinnen online gemerkt, dass Gewalt alles andere als normal ist und sie ihre Stimme erheben und aktiv werden können.“
Während Wendy sich schon früh gegen zugeschriebene Geschlechterrollen ihrer religiösen Eltern einsetzte, widersetzten sich ihre beiden Schwestern nicht. „Sie sind der Meinung, dass Frauen keinen Ärger bereiten und ihre Stimme nicht gegen die Regierung erheben sollen“, sagt sie. Die konservative Familie könne den politischen Einsatz von Wendy nicht nachvollziehen. Wendys Mutter habe ihr nach dem Vorfall bei der Demonstration nur Vorwürfe gemacht. „Wir sprechen seitdem nicht mehr miteinander“, sagt Wendy.
Der Kampf um Gleichberechtigung führt nicht nur zu innerfamiliären Konflikten wie bei Wendy. Laut Turner trägt er auch dazu bei, dass die Gewalt gegen Frauen noch zunimmt. „Viele Männer kommen nicht damit klar, dass Frauen mittlerweile sichtbarer sind und ihre Stimme erheben, statt zu Hause die Rolle der hörigen Hausfrau zu erfüllen.“ Durch Gewalt würden sie versuchen, Frauen auf ihre angestammten Plätze in der Gesellschaft zurückzudrängen.
Um sich gegen ebenjene geschlechtsspezifische Gewalt wehren zu können, bietet Ana Moreno von der NGO Círculo Feminista de Análisis Jurídico anderen Frauen in Mexiko Rechtsberatungen an. Die 33-Jährige ist eine der Mitbegründerinnen der Organisation. „In Workshops bringen wir Nichtjuristinnen bei, wie sie sich mithilfe des Rechtssystems gegen Sexismus wehren können“, erklärt Ana. Als am Weltfrauentag am 8. März in Mexiko-Stadt Demonstrationen stattfanden, erklärte Ana anderen Frauen vorab, welche Rechte sie bei einer solchen Veranstaltung haben und was sie tun müssen, sollten sie unrechtmäßig in Gewahrsam genommen werden.
Aus Selbstschutz, wie sie sagt, habe sie irgendwann angefangen, sich anders zu kleiden
Die Idee für die Gründung kam Ana durch den Austausch über feministische Themen mit anderen Frauen. „Ich habe gemerkt, wie hilfreich mein Beruf für andere sein kann.“ Doch auch die eigenen Erfahrungen mit geschlechtsspezifischer Diskriminierung haben zu Anas Werdegang beigetragen. „In Mexico City wurde ich immer wieder von Männern belästigt. Die Belästigungen reichten von sexistischen Kommentaren bis hin zu sexuellen Übergriffen in der Öffentlichkeit.“ Aus Selbstschutz, wie sie sagt, habe sie irgendwann angefangen, sich anders zu kleiden: „Statt Röcken und Kleidern habe ich, selbst wenn es warm war, angefangen, lange Hosen zu tragen.“ Solche Ansätze sind unter Feministinnen umstritten, da sie nicht die Täter in die Verantwortung nehmen, sondern die Frauen. Doch am Ende gewinnt eben oft die pragmatische Lösung: Für Ana hat diese Entscheidung den Alltag erleichtert.
Mit dem Círculo Feminista hilft sie seit 2017 nun anderen Frauen, die sich gemeinsam gegen diesen Sexismus und sexualisierte Gewalt wehren wollen. Der Kampf von Frauen wie Wendy und Ana, sowohl auf den Straßen als auch in Organisationen, macht Tania Turner von Fondo Semillas Hoffnung. „Die Feministinnen in diesem Land leisten wunderbare Arbeit“, sagt sie. Tania hofft, dass dieser Kampf der nächsten Generation ein anderes Land hinterlassen wird. Ein Land, in dem Frauen und Mädchen sich frei bewegen und sein können, wer sie wollen. Dazu braucht es aber auch einen Staat, der konsequenter handelt, um Frauen vor Gewalt zu schützen. Und Männer, die bereit sind, ihr Verhalten zu verändern.
Im Titelbild links zu sehen ist die Narbe vom Streifschuss, den Wendy am 9. November abbekommen hat.