cms-image-000046934.jpg

Adis Mutter im Garten ihres Hauses (Foto: Drafthouse Films)

Adis Mutter im Garten ihres Hauses

(Foto: Drafthouse Films)

Wie lebt man mit dem Wissen, dass man selbst nur auf der Welt ist, weil der ältere Bruder umgebracht wurde und die Eltern danach unbedingt noch einmal ein Kind wollten? Wie lebt man Tür an Tür mit den Mördern des eigenen Sohnes? Wie lebt man damit, Menschen brutal abgeschlachtet zu haben? Oder einen Massenmord befohlen zu haben?

In „The Look of Silence“ thematisiert der US-amerikanische Regisseur Joshua Oppenheimer ein weiteres Mal die antikommunistischen Massenmorde Mitte der 1960er-Jahre in Indonesien, die das Fundament für die anschließende 32-jährige Diktatur des prowestlichen Generals Suharto bildeten. Mit aktiver Unterstützung der USA und ihrer Verbündeten setzte er sich damals an die Stelle von Präsident Sukarno und ließ alle politischen Gegner ausschalten. Dabei wurden – je nach Schätzung – zwischen 500.000 und 3.000.000 Menschen umgebracht, Hunderttausende in Gefängnisse und Arbeitslager gesperrt. Die Pogrome richteten sich vor allem gegen Kommunisten, aber auch gezielt gegen chinesischstämmige Indonesier. Zahlreiche Zivilisten mordeten damals auf Geheiß der Militärs, teils aus religiösen Gründen, teils aus wirtschaftlichen, teils aus Angst, selbst ermordet zu werden. 

Nachdem Oppenheimer in seinem viel beachteten und für den Oscar nominierten Vorgängerfilm „The Act of Killing“ die Motivation der Täter ausgeleuchtet hat, wendet er sich nunmehr den Opfern zu. Einer der Ermordeten war Ramli, der Bruder des Protagonisten Adi Rukun. Adi, ein fahrender Optometrist, nutzt seine Besuche bei Kunden, um mehr über das Geschehene herauszufinden. Er sitzt denen gegenüber, die die Morde ausführten und beauftragten: heute alte Männer, die sich noch immer in großer Detailverliebtheit ihrer Taten rühmen. Nach seiner persönlichen Schuld gefragt, sagt einer der ehemaligen Milizenführer und seit 40 Jahren Abgeordneter im lokalen Parlament zynisch: „Das ist eben Politik. Politik ist der Prozess, jemandes Vorstellungen durchzusetzen, auf verschiedenen Wegen.“

„The Look of Silence“ kommt leiser daher als „The Act of Killing“, doch er hinterlässt den Zuschauer in einem ähnlichen Schockzustand. Vor immergrüner Tropenkulisse, begleitet von Grillenzirpen, legt Adi Rukun Schicht für Schicht das Grauen frei. Da ist Adis Mutter, die sich ihre Trauer von der Seele redet. Da ist der Vater, pflegebedürftig und kaum noch ansprechbar – alle Zähne seien ihm nach dem Mord an Ramli ausgefallen, einer nach dem anderen, sagt die Mutter. Da sind die Täter mit ihrer unfassbaren Siegesgewissheit. Immer wieder schaut sich Adi ihre Berichte auf einem Monitor an – ein Anblick, der kaum zu ertragen ist.

Nur ein einziger Mensch entschuldigt sich bei Adi

Aus Sicherheitsgründen lebt Adi Rukun inzwischen mit seiner Familie an einem anderen Ort in Indonesien. „Für mich war es eine Art Opfer, das ich bringen musste“, sagt er zu seiner Motivation, diesen Film zu machen. Worauf er gehofft habe, sei ein Schuldeingeständnis der Täter gewesen. Ein einziger Mensch entschuldigt sich im Film bei ihm: die Tochter eines der Mörder, die beim Besuch von Adi zum ersten Mal mit anhören muss, wie ihr Vater früher Menschen umbrachte. Es ist eine der stärksten Szenen des Films. Mit Tränen in den Augen drückt die Frau ihr Bedauern aus und umarmt ihn.

Die Massaker haben bis heute ihre Spuren in der indonesischen Gesellschaft hinterlassen. Vor dem Blutbad Mitte der 60er-Jahre hatte Indonesiens im Volk äußerst beliebter erster Präsident Sukarno die widerstrebenden politischen Kräfte im Land zu vereinen versucht, die in Zeiten des Kalten Krieges nicht zu vereinen waren. Am 30. September 1965 kam es schließlich zu einem Putschversuch, dessen Umstände bis heute weitgehend ungeklärt sind, für den aber Kommunisten verantwortlich gemacht wurden. General Suharto nutzte die Gelegenheit und ließ – mit aktiver Unterstützung der USA und ihrer westlichen Verbündeten – alle politischen Gegner ausschalten, darunter die damals drittgrößte kommunistische Partei der Welt, die bis heute verboten ist. Zudem baute er seine Machtbasis kontinuierlich aus und verdrängte schließlich – der Gegenputsch war vollendet – Sukarno 1967 als Präsident Indonesiens.

Der Rest ist Geschichte. Und Gegenwart. In einer Szene des Films sitzt Adis Sohn in der Schule, wo der Lehrer viele Worte für die brutalen Taten der Kommunisten findet, vor denen die Armee die Nation bewahrt habe. Kein Wort über die Grausamkeit der Milizen und Militärs. Kein Wort über Folter und systematische sexuelle Gewalt in Gefängnissen.

Bis heute sind die Täter straflos geblieben und die Opfer stigmatisiert. Bis heute dominieren das öffentliche Geschichtsbild die in den Diktaturjahren errichteten Monumente, die Suharto als „Retter der Nation“ und „Vater des Wirtschaftsaufschwungs“ preisen. Immerhin ist es dank der Beharrlichkeit zivilgesellschaftlicher Gruppen seit Suhartos Rücktritt 1998 gelungen, die Stimmen der Überlebenden vernehmbar zu machen. Opferverbände formierten sich, und progressive Historiker arbeiten mit jungen Lehrern und Dozenten daran, eine alternative Sicht auf die Geschichte zu verbreiten.

Das Filmteam von Joshua Oppenheimer bleibt aus Sicherheitsgründen anonym

Doch dieses Bemühen wird immer wieder behindert. Treffen von Überlebenden und Menschenrechtsorganisationen werden vom Mob mit Gewalt aufgelöst. Diskussionen, Vorführungen und Vorstellungen von Filmen oder Büchern zum Thema 1965, von denen inzwischen auch in Indonesien zahlreiche entstanden sind, werden nicht selten von der Polizei mit Hinweis auf die „Gefährdung der Sicherheit“ verboten. So geschah es auch einige Male bei Vorführungen von „The Look of Silence“. Oppenheimers indonesische Filmcrew blieb sicherheitshalber gleich anonym.

Unbestreitbar ist das Verdienst der Dokumentarfilme Joshua Oppenheimers, dass sie die Aufmerksamkeit der Zuschauer auf den lange zum Tabu erklärten Massenmord ziehen. An manchen Stellen fragt man sich jedoch, ob das beinahe unbarmherzige Draufhalten – zum Beispiel auf den kranken Vater Adis, der nicht mehr selbst entscheiden kann, ob er Teil dieses Films sein möchte – wirklich nötig ist, um die Aussage des Films zu transportieren. Es bleibt die Frage, wie viele Erkenntnisse über die komplexen Hintergründe des Themas Zuschauer aus den Filmen mitnehmen, die kein Vorwissen haben. 

Zur aktiven Rolle des Westens und speziell der USA beim gewaltsamen politischen Umsturz, der viele Parallelen zu Staatsstreichen in Lateinamerika in den 70er-Jahren aufweist, erfährt der Zuschauer wenig. In Indonesien hatte es schon in den späten 50er-Jahren verdeckte Operationen der CIA gegeben, damals kam es sogar zum Abschuss eines amerikanischen Piloten, der dann vor ein indonesisches Militärgericht gestellt wurde. Wie nervös vor allem die US-Regierung und die britische Regierung über Sukarnos Konfrontationskurs waren, belegen zahlreiche inzwischen freigegebene Dokumente, die Historiker aufgearbeitet haben.

cms-image-000046933.jpg

Dem Täter gegenüber: Adi befragt Amir Siahaan, einen der Kommandeure, der für den Tod seines Bruders verantwortlich ist (Foto: Drafthouse Films)

Dem Täter gegenüber: Adi befragt Amir Siahaan, einen der Kommandeure, der für den Tod seines Bruders verantwortlich ist

(Foto: Drafthouse Films)

Immerhin werden bei „The Look of Silence“ alte Filmaufnahmen der NBC eingespielt, in denen vom Massenmord und dem Engagement amerikanischer Unternehmen berichtet wird. Diese Aufnahmen zeigen, dass auf der Kautschukplantage des US-amerikanischen Reifenherstellers Goodyear in Nordsumatra politische Häftlinge als Zwangsarbeiter eingesetzt wurden. Er habe es nicht fassen können, sagt Regisseur Joshua Oppenheimer, dass diese Aufnahmen damals im US-Fernsehen zu sehen waren und dass sie offenbar keinen öffentlichen Aufschrei provozierten. 

In einer Szene des Films fordert einer der Mörder, dass sie eigentlich in die USA eingeladen werden und dort eine Auszeichnung bekommen müssten. Und am Ende von „The Look of Silence“ stehen zwei der Täter am „Schlangenfluss“, wo sie zahlreiche Menschen umbrachten. Sie prahlen mit ihren Taten, einer hebt die Hand zum Victory-Zeichen. Und man wünscht sich eigentlich von Oppenheimer noch einen dritten Film, der uns zeigt, wie die Kalten Krieger in den Hauptstädten der Welt auf diese Aufnahmen reagieren.

Anett Keller hat als Journalistin mehrere Jahre in Indonesien gelebt und beschäftigt sich seit langem mit der Aufarbeitung der Ereignisse von 1965. Sie ist Herausgeberin des politischen Lesebuchs „Indonesien 1965 ff. – Die Gegenwart eines Massenmordes“, das ausschließlich von indonesischen Überlebenden, Aktivisten und Akademikern geschrieben wurde