Sie waren Mörder, Bettler, Prostituierte und politische Aufrührer aus allen Weltgegenden. Und weil Napoleon III. 1853 beschlossen hatte, mit ihrer Hilfe die Besiedlung seiner fernsten Kolonie zu beschleunigen, ganz nach dem Vorbild der Briten in Australien, wurden sie auf Schiffe verfrachtet und Wochen später am Bootsanleger des Straflagers Île Nou wieder ausgesetzt: auf Neukaledonien, einer Inselgruppe mitten im Südpazifik. Am gefühlten Ende der Welt mussten die insgesamt 25.000 Sträflinge Straßen und Brücken bauen, auf Zuckerrohrplantagen oder in Nickelminen schuften, bevor sie nach Verbüßung ihrer Strafe jeder sechs Hektar Land bekamen. Land, von dem zuvor die einheimischen melanesischen Stämme brutal vertrieben worden waren. 1921 lebte kaum noch die Hälfte der Ureinwohner, die sogenannten Kanak, in Reservate gepfercht, weitgehend ihrer Kultur beraubt.

Bei der UNO läuft der Antrag auf Dekolonisation seit Mitte der 1980er

Die Nachfahren der Sträflinge stellen heute einen bedeutenden Teil der Inselbevölkerung – und viele schweigen lieber über ihre Herkunft. Ein geplantes Museum über die unrühmliche Geschichte der Kolonisation sei sogar in letzter Minute verhindert worden, sagt die designierte Direktorin Emmanuelle Eriale. In der renovierten Kommandantur sitzen nun Sprachschüler und lernen Französisch. Als Eriale das französische Ministerium für Überseegebiete um Unterstützung für ihr Museum bat, sei nur eine Gegenfrage gekommen: „Ist diese Geschichte wirklich wichtig?“

1998 wurde mit der Regierung in Paris vereinbart, dass spätestens 2018 ein Referendum über den Status der Insel entscheiden soll: Bleibt Neukaledonien mit seinen rund 275.000 Einwohnern französisch? Oder löst es sich von Paris, um als eine der letzten Kolonien ein unabhängiger Staat zu werden? Doch bis heute gibt es kein konkretes Datum für den Volksentscheid. Und erst recht kein politisches Programm, wie die Zukunft gestaltet werden könnte – mit oder ohne Frankreich.

An einigen Amtsgebäuden hängen bereits zwei Flaggen: die französische und die von „Kanaky“, wie die Inselgruppe bei den Anhängern der Unabhängigkeit heißt. Bei der UNO läuft der Antrag auf die „Dekolonisation“ Neukaledoniens bereits seit Mitte der 1980er-Jahre, aber als der französische Statthalter, wie immer in einer makellos weißen Uniform mit bunten Orden, im Januar dieses Jahres seine Neujahrsansprache hielt, erwähnte er das Referendum mit keinem einzigen Wort.

„Frankreich beutet Neukaledonien seit jeher für strategische Zwecke aus“, sagt Gérard Reignier von der Unabhängigkeitspartei Union Calédonienne. Erst sei es um die Nickelminen gegangen, heute gehe es um wertvolle Rohstoffe, die auf dem Meeresboden schlummern. „Wir sollten uns lieber mit anderen pazifischen Völkern verbinden“, so Reignier.

„Mein Heimatland ist Neukaledonien. Aber wenn Paris uns hilft, was soll daran falsch sein?“, fragt hingegen Nicolas Metzdorf, ein 28 Jahre alter Loyalist – so nennen sich die Anhänger eines französischen Neukaledoniens –, dessen Vorfahren 1897 aus Flandern auf die Insel kamen. „Die große Mehrheit hier will französisch bleiben. Und es herrscht nun mal Demokratie.“

Tatsächlich geht es den Neukaledoniern verglichen mit anderen Inselstaaten im Südpazifik recht gut

Tatsächlich geht es den Neukaledoniern verglichen mit anderen Inselstaaten im Südpazifik recht gut. Touristen, die aus Europa um die halbe Welt fliegen, entdecken östlich von Australien eine 400 Kilometer lange zigarrenförmige Trauminsel: Im Großraum Nouméa im Süden, Heimat von zwei Dritteln der Einwohner, pulsiert das Leben zwischen dem kolonialen Zentrum und den von Palmen gesäumten Strandbuchten, als wäre man an der Côte d’Azur. Der weite Norden bietet tropische Natur und das zweitgrößte Korallenriff der Erde. Die Kanak pflegen auf den Ländereien, die ihnen rückübertragen wurden, ihre melanesischen Traditionen: Sie pflanzen Jamswurzel, ernten Mangos, handeln mit Langusten und betreiben erfolgreich eine große Nickelmine. Die medizinische Versorgung ist auf dem Niveau Frankreichs, das Angebot in den Supermärkten auch.

Während sogenannte Übersee-Départements wie Guadeloupe in der Karibik oder Mayotte vor der Ostküste Afrikas vollständig von Paris aus regiert werden, hat sich die sogenannte Collectivité sui generis im Pazifik eine besondere Autonomie erkämpft: Der französische Statthalter wacht über die Verteidigung, die innere Sicherheit, die Finanzen und die Justiz. Sämtliche anderen Belange werden von der neukaledonischen Regierung reguliert – vom Schulsektor bis zum „Sénat Coutumier“, der sich um kanakische Kultur kümmert. Aus Frankreich flossen 2015 rund 1,3 Milliarden Euro in den Inselhaushalt, das waren über 17 Prozent des Bruttoinlandsprodukts und damit mehr als die Einnahmen aus den Nickelminen. „Klingt nach einem guten Deal“, sagt Emmanuelle Eriale. „Leider profitieren nicht alle davon.“

Die Weißen bleiben auf den wichtigsten Posten meist unter sich

Tatsächlich bilden Kanak und Französischstämmige eine bunte, multikulturelle Gesellschaft. Alle besuchen dieselben Schulen, arbeiten zusammen und schätzen es gleichermaßen, mit großen Pick-ups rumzukurven und am Wochenende jagen zu gehen, um den Kühlschrank zu füllen. Andererseits bleiben vor allem im bevölkerungsreichen Süden die Weißen auf den Chefposten in Wirtschaft und Verwaltung ziemlich unter sich. Auch geheiratet wird zwischen den beiden Volksgruppen eher selten. Die Kanak stimmen eher für linke Parteien, die Unabhängigkeit fordern und ihre eigene Flagge hissen. Die anderen unterstützen konservative Loyalisten, die sich treu an Frankreich binden. Dabei nimmt die Zahl der Loyalisten seit 1969 stetig zu, auch durch Zuzüge aus anderen französischen Überseegebieten. 2014 betrug der Anteil der Kanak an der Bevölkerung nur noch 39 Prozent.

Aber was passiert, wenn die nach Unabhängigkeit strebenden Kanak bei einer Volksbefragung überstimmt werden? Manche fürchten, dass sich die „évènements“, die „Ereignisse“, der 1980er-Jahre wiederholen könnten. Damals fingen radikalisierte Unabhängigkeitskämpfer und Loyalisten fast einen Bürgerkrieg an. Im Mai 1988, auf dem Höhepunkt der Krise, entführten melanesische Extremisten eine Gruppe französischer Militärs, woraufhin Spezialeinheiten ein Blutbad anrichteten, bei dem 19 Kanak und zwei Soldaten starben. Schließlich gelang es dem kanakischen Volkshelden Jean-Marie Tjibaou zusammen mit dem französischen Staatspräsidenten François Mitterrand und dem Vertreter der Loyalisten, ein Friedensabkommen zu initiieren.

„Besonders Neukaledonien erlaubt uns eine Präsenz in der Welt, die der Großartigkeit unseres Landes entspricht“, sagte der Premierminister Manuel Valls noch bei einem Besuch in Nouméa im vergangenen Jahr. Mit Präsenz in der Welt ist wohl auch eine gute Position im Kampf um Rohstoffe und Märkte gemeint. So lagern 25 Prozent der globalen Nickelressourcen in Neukaledonien, zudem exportiert Frankreich im Jahr Waren im Wert von 560 Millionen Euro Richtung Pazifik. Abgesehen davon besitzt das Archipel eine riesige Sonderwirtschaftszone mit einer Größe von 1,7 Millionen Quadratkilometern – und fungiert als französischer Stützpunkt nach ganz Ozeanien. Was das Referendum anbelangt, setzt Frankreich nun auf eine Doppelstrategie: Während es offiziell die Wählerlisten zusammenstellt, forschen Völkerrechtler fieberhaft nach Kompromissen zwischen dem heutigen Status und einem harten Ausstieg. Ob Emmanuelle Eriale jemals ihr Museum auf der Île Nou eröffnen kann, ist derzeit genauso offen wie die Frage, welche Flagge nach 2018 über der Hauptstadt Nouméa weht: Die französische? Die von Kanaky? Beide? Oder vielleicht eine ganz neue?

Titelbild: CLAUDE BEAUDEMOULIN/AFP/Getty Images