Laut offiziellen Zahlen sind in Nepal fünf Millionen Mädchen vor dem 18. Geburtstag verheiratet worden. 1,3 Millionen Mädchen sogar vor dem 15. Geburtstag. Salita Kumari Sada, 27, aus Khadak in der Provinz Madhesh entging einer frühen Heirat. Heute setzt sie sich als Aktivistin für die Rechte von Mädchen ein – manchmal vergeblich: Ihre Nachbarin Anjali konnte sie nicht vor einer Frühheirat bewahren. Jetzt ist die 16-Jährige schwanger. Hier erzählt Salita Kumari Sada die Geschichte von Anjali – und ihre eigene.
Anjali ist ein Mädchen aus meiner Nachbarsfamilie. Ich kenne sie, seit sie ein Baby war. Inzwischen ist sie 16. Vor einem Jahr verliebte sie sich. Im Geheimen schrieb sie auf ihrem alten Handy mit Binod, einem Jungen aus dem Dorf. Als das herauskam, war die Aufregung in ihrer Familie groß. Zwar sagte Anjali ihren Eltern: „Es ist nichts passiert.“ Aber die waren sich einig: Die Tochter müsse sofort mit Binod verheiratet werden. Wir gehören zur Gemeinschaft der Musahar. In unserer Kultur muss Sex vor der Ehe um jeden Preis vermieden werden.
Unsere Gemeinschaft ist ganz unten in der Hierarchie der Kasten im Hinduismus, wir gehören zu den „Dalits“, früher hieß es, wir seien „unberührbar“. Laut Verfassung ist die Diskriminierung aufgrund der Kaste verboten. Viele Menschen betrachten uns aber immer noch als weniger wert, wir werden weiter ausgegrenzt. Die meisten von uns sind arm und ungebildet. Viele Eltern betrachten die Schule für Mädchen als unwichtig. Sie heiraten ja sowieso. Wichtig ist nur, dass sie unberührt heiraten. Denn beim Sex vor der Ehe verliert nicht nur das Mädchen die Ehre. Die ganze Familie ist beschmutzt. So ist die Vorstellung.
„Beim Sex vor der Ehe verliert nicht nur das Mädchen die Ehre. Die ganze Familie ist beschmutzt – so ist die Vorstellung“
Ich ging zu Sushila, Anjalis Mutter. Ich arbeite für die Janaki Women Awareness Society (JWAS). Wir setzen uns für die Stärkung der Mädchen ein und gegen schädliche Traditionen. Ich coache als Mentorin jüngere Kolleginnen, wie sie Mädchen aus armen Familien unterrichten können, die die Schule abgebrochen haben. Wir versuchen den Mädchen Fähigkeiten zu vermitteln, wie sie trotz ihrer schlechten Ausgangslage ihr Leben meistern können.
Aber zu Sushila ging ich auch als Nachbarin. Wir leben eng zusammen in unserer Gemeinschaft, wir sind uns nahe. Ich sprach mit ihr über die Konsequenzen von frühen Ehen: Die Mädchen gehen nicht mehr zur Schule, sie bekommen früh viele Kinder, die Armut wird weitervererbt. Doch Sushila sagte: „Das geht dich nichts an!“ Danach sprachen wir drei Monate lang nicht mehr miteinander.
Anjali sagte, sie liebe Binod. Ihre Mutter fürchtete: „Wenn wir sie nicht heiraten lassen, brennen sie zusammen durch!“ Dadurch wäre die Familie geächtet, müsste eine Buße an die Gemeinschaft zahlen. Das Geld würde dann für ein Festmahl ausgegeben. Anjali würde verstoßen und dürfte noch nicht einmal mehr zu Besuch kommen.
Also hat Anjali geheiratet. Nicht offiziell, sondern nur im Tempel, denn legal, also vor dem Standesamt, darf man erst ab 20 heiraten in Nepal. Eigentlich sind Kinderheiraten in Nepal schon lange verboten. Aber Polizei und Behörden schauen weg. Es gibt so gut wie niemanden, der bestraft wird. Die Tradition ist stark: Je früher ein Mädchen heiratet, desto größer das Prestige für die Eltern, das ist die überkommene Vorstellung. Binod ist nach Kathmandu gegangen, um dort als Bauhelfer Geld zu verdienen. Aber vorher wurde Anjali noch schwanger.
„Eigentlich sind Kinderheiraten in Nepal schon lange verboten. Aber Polizei und Behörden schauen weg“
Das frustriert mich. Oft bin ich machtlos in meiner Arbeit als Aktivistin für Mädchen. Mein Lebensstil ist für die Verhältnisse hier sehr ungewöhnlich. Ich trage Hosen. Ich engagiere mich als Frau in einer Partei. Ich fahre ein Moped. Und ich bin nicht verheiratet, obwohl ich schon 27 bin. Ich wohne immer noch zusammen mit meinen Eltern. Eigentlich sollte ich schon seit elf Jahren verheiratet sein. Meine Eltern bekamen ein erstes Heiratsangebot für mich kurz nach meinem 16. Geburtstag. Mein Vater wollte den Antrag annehmen – ich wusste von alldem nichts.
Doch dann forderte die Familie des Bräutigams eine große Mitgift. Denn ihr Status war besser als unserer. Sie hatten ein Haus aus Beton in der Nähe des Marktplatzes. Wir haben nur ein Lehmhaus an der Fernstraße. Außerdem machte der Bräutigam einen Bachelor an einer Handelsschule. Sie verlangten 700.000 Rupien (damals 6.200 Euro und weit mehr als ein Jahreseinkommen, Anm. der Red.), ein Moped und 100 Gramm schweren Goldschmuck.
Mein Vater war verzweifelt. Er kam betrunken nach Hause. Wie sollte er seine anderen Töchter verheiraten, wenn schon meine Heirat sein Vermögen auffressen würde? Schließlich entschied er sich, für meine Heirat unser Land zu verkaufen. Ein Reisfeld. Meine kleine Schwester berichtete mir davon. Erst dadurch erfuhr ich von den Heiratsplänen.
Ich dachte nicht daran, mich der Heirat zu widersetzen. Aber ich dachte: Es ist ungerecht, dass mein Vater sein Land für mich verkaufen muss.
Ich fand die Telefonnummer des Bräutigams heraus. Seine Mutter ging ran, als ich anrief. Ich sagte: „Wenn mein Vater euch so viel geben soll, dann komme ich nicht zu euch. Dann muss euer Sohn zu mir kommen, damit er sich um meine Eltern kümmern kann.“ Die Frau war wohl schockiert. Dann fand sie ihre Sprache wieder. „Gibt es in unserer Kultur die Möglichkeit, dass der Bräutigam ins Haus der Braut geht?“, fragte sie. Dann gab sie die Antwort selbst: „Nein, das gibt es nicht.“ Ich antwortete: „Ihr wisst, wie arm wir Musahar leben. Wie könnt ihr es wagen, so viel Mitgift zu verlangen? Wie soll mein Vater das schaffen? Wir sind vier Schwestern!“ Die Frau drückte das Gespräch weg.
Mein Vater war wütend, als er von dem Anruf erfuhr. „Die Familie ist gut. Der Bräutigam macht einen Abschluss, ist gebildet.“ Ich sagte: „Wie können sie eine gute Familie sein, wenn sie so viel verlangen? Wenn der Bräutigam gebildet ist, müsste er doch unsere Situation verstehen!“ Zehn Tage lang war die Stimmung schlecht. Ich argumentierte weiter: „Wenn ihr nur einen Bruchteil der Mitgift für meine Bildung ausgebt, werde ich viel erreichen! Ich werde nichts Dummes tun, euch keine Schande machen!“
Langsam wurde mein Vater weich. Er war zwölf Jahre in Saudi-Arabien gewesen. Nur deshalb konnte er das Reisfeld kaufen. Im Ausland sah er, wie wichtig Bildung ist. Ich durfte immer zur Schule gehen, während andere Mädchen zu Hause blieben. Vielleicht hatte ich auch deshalb die Stärke, mich zu widersetzen.
Danach kamen noch drei oder vier weitere Heiratsanträge, aber jedes Mal sagte ich Nein. Und meine Eltern akzeptierten es. Ich belegte die elfte und die zwölfte Klasse. Leider hatte ich dann einen schlimmen Busunfall. Der Bus überschlug sich dreimal. Fünf Menschen starben. Ich hatte einen Hüft- und einen Beinbruch. Drei Monate lag ich im Krankenhaus, sieben Monate war ich danach krank zu Hause. Das warf mich zurück. Danach begann ich, als Mitarbeiterin für JWAS zu arbeiten. Aktuell mache ich nebenher einen Bachelor in Pädagogik. Ich bin im dritten Jahr.
Ich bin in eine Partei eingetreten, die den Sozialismus in Nepal einführen will. Die Partei setzt sich für Arme, Hilfsarbeiter in der Landwirtschaft und marginalisierte Gemeinschaften wie die Musahar ein. Ich hoffe, dass ich langfristig Mitglied im Nationalparlament werde.
Ich muss mir viel anhören. „Auch wenn du ein Junge sein willst, unter den Hosen wirst du immer eine Frau sein“, sagen sie mir im Dorf. Ich weiß auch, dass sie Gerüchte sexueller Natur über mich in die Welt setzen. Eine Frau mit 27, die nicht verheiratet ist, das ist für sie einfach nicht zu begreifen!
„Ich habe auch Hoffnung. Die Vorurteile, die mir als unverheiratete und selbstbestimmte Frau entgegengebracht werden, ändern sich bereit“
Mir macht das nicht so viel aus. Besorgt bin ich mehr um Anjali und all die anderen Mädchen in unserer Gemeinschaft. Ohne Ausbildung, ohne Job, auch ihre jungen Ehemänner ohne Chancen! Ihre Mutter Sushila ist Mitte 30 und bald Großmutter: Sie weiß, dass Anjali ein ähnlich hartes Leben haben wird wie sie. „Anjali wollte nicht mehr zur Schule“, sagte Sushila zu mir. „Sie brach sie nach der sechsten Klasse ab. Wenn sie noch zur Schule gegangen wäre, hätte es weniger Druck gegeben aus der Gemeinschaft, dass sie heiratet.“ Aber sie sah keine Möglichkeit, ihrer Tochter einen anderen Weg zu zeigen, aufgrund der Sitten.
Aber ich habe auch Hoffnung. Die Vorurteile, die mir als unverheiratete und selbstbestimmte Frau entgegengebracht werden, ändern sich bereits. Es gibt Eltern und Mädchen, die mich als Vorbild sehen. Das merke ich in den Gesprächen daran, wie sie mit mir reden.
Anjali hat eine kleine Schwester. Aarti ist zehn. Sie geht jeden Tag zur Schule, nicht wie Anjali, die oft schwänzte. Sie ist eine der Besten in der Klasse. Wenn man sie fragt, was sie werden will, sagt sie: Polizistin oder Ingenieurin oder Ärztin. „Aber dann darfst du nicht früh heiraten“, sage ich dann. Darauf sie: „Ich werde auf keinen Fall früh heiraten.“