„Lotta“ bedeutet auf Italienisch Kampf. „Lotta, das ist unser Wort“, beginnt Patrizia Mincione, die auf einem Stuhl inmitten eines kleinen Rasenstücks im Schatten des 15-stöckigen Sozialbaus „Le Vele di Scampia“ Platz genommen hat. Scampia ist eine Vorstadt in Neapel, die als Mafiahochburg und Zentrum des Drogenhandels in Verruf geraten ist. Mit Patrizia in einem Kreis sitzen an diesem Vormittag Ende September 2023 sechs Frauen zwischen 40 und 60 Jahren.
Patrizia ist hier schon lange Sozialarbeiterin und mittlerweile Gemeinderätin. Sie hat die Frauen im Viertel zusammengebracht. Im Hintergrund rauschen auf einer mehrspurigen, mit Schlaglöchern übersäten Straße Autos vorbei. Alle Aufmerksamkeit liegt an diesem Freitagvormittag auf den Geschichten der anderen, der Freundin, der Nachbarin.
Camilla ergreift das Wort: „Wir leben hier, wie Menschen an allen Orten auf der Welt leben, die vom Staat verlassen wurden.“ Die Frauen nicken. Vor neun Jahren starb Camillas Mann an Krebs, seither ist sie alleine mit den drei Söhnen. „Mein Mann hat sein Leben lang schwarzgearbeitet. Eine Witwenrente bekomme ich nicht.“ Um die Familie durchzubekommen, suchte sie nach einem Job und fand in Vomero, einem der wohlhabenden Viertel in Neapel, eine Vollzeitstelle als Verkäuferin bei einer Supermarktkette. Dort bezahlte man ihr 480 Euro bar auf die Hand, erzählt sie. Für die Schulbesuche ihrer Kinder, Arztrechnungen und generell zum Leben reichte das Geld nicht. Sie kündigte und lebte ab 2019 vom italienischen Bürgergeld, dem „reddito di cittadinanza“. Bis vor ein paar Monaten.
Camillas Erfahrung teilen viele im Kreis. Die Arbeitslosenquote in Scampia liegt bei 65 Prozent. In Neapel und im Süden Italiens gibt es kaum legale Arbeit. Wer überleben will, hat oft keine andere Wahl, als schwarzzuarbeiten. So berichten es Betroffene und Sozialarbeiter in Scampia. Schwarzarbeit ist in der Region Kampanien, zu der Neapel gehört, fest etabliert, sie liegt bei rund 18 Prozent.
Alle anwesenden Frauen arbeiteten, um ihre Familien durchzubekommen, in Schwarzarbeit oder tun es immer noch – meist für 10, höchstens 20 Euro am Tag. Die Mehrheit von ihnen hatte noch nie einen offiziell angemeldeten Job, so einer gilt als Utopie im Viertel. Seit 2019 lebten viele, wie auch Camilla, zusätzlich vom Bürgergeld, das die italienische Regierung Arbeitslosen und Menschen mit geringem Einkommen bezahlte. „Wir hatten vier Jahre lang Geld für Ausgaben, die wir uns vorher nicht leisten konnten. 3.000 Euro pro Zahnspange für meine drei Söhne, das wäre ohne Bürgergeld unmöglich gewesen.“ Die Auswirkungen waren gerade zu Pandemiezeiten weitreichend: Laut dem italienischen Statistikamt bewahrte das Bürgergeld, das unter Ministerpräsident Conte eingeführt wurde, eine Million Menschen davor, in die absolute Armut zu rutschen.
Zum 1. Januar 2024 wurde dieses von der italienischen Regierung unter Ministerpräsidentin Giorgia Meloni endgültig gestrichen. Schon im Wahlkampf hatte Meloni eine strikte Haltung bei sozialpolitischen und gesellschaftlichen Fragen eingenommen, bei Wahlveranstaltungen erklärte sie immer wieder, dass „ein gerechter Staat Menschen, die arbeiten könnten, nicht auf eine Stufe mit wirklich Bedürftigen stellen sollte“. Die italienische Staatschefin und ihre Regierung erhoffen sich, dadurch Milliarden zu sparen und die Arbeitslosenquote zu senken, weil wieder mehr Menschen eine Anstellung suchen.
Im Jahr 2023 lebten landesweit 5,7 Millionen Menschen in absoluter Armut, das heißt, dass ihre Grundbedürfnisse von Essen, Kleidung oder medizinischer Versorgung nicht gesichert waren. Rund 1,2 Millionen Menschen davon erhielten die Grundsicherung.
Im Mai 2023 kündigte die italienische Regierung an, das Bürgergeld zu streichen. Im Juli verschickte die Sozialbehörde eine SMS an diejenigen Bürgergeldempfänger:innen, die als arbeitsfähig gelten, um sie darüber zu informieren, dass sie ab sofort keine weiteren Zahlungen bekommen würden. Menschen zwischen 18 und 59 Jahren, die nicht in einem Haushalt mit mindestens einer minderjährigen, behinderten oder älteren Person über 60 lebten, fielen in diese Kategorie.
Ab dem 1. Januar wurde auch allen anderen, die zunächst keine SMS bekommen hatten, die Leistung gestrichen. Sie konnten seither ein Eingliederungsgeld, das „assegno di inclusione“, beantragen. Dieses fällt geringer aus als das Bürgergeld. Familien berichten, dass sie mit diesem etwa die Hälfte von dem bekommen, was sie vorher hatten. Abhängig ist der genaue Betrag, den eine Familie bekommt, von der Anzahl der Familienmitglieder, deren Alter und ob es Menschen mit Behinderung im Haushalt gibt. Die Leistung wird monatlich für einen Zeitraum von 18 Monaten gezahlt und kann um ein Jahr verlängert werden. Nach Ablauf der Verlängerungszeiträume wird die Leistung jedoch immer für einen Monat ausgesetzt. Eine Unterstützung von bis zu 280 Euro im Monat für die Miete gibt es weiterhin. Wer an einer Qualifizierungsmaßnahme teilnimmt, bekommt außerdem ein Jahr lang 350 Euro im Monat.
Seit das Bürgergeld abgeschafft wurde, sei die „paura del domani“, die Angst vor dem Morgen, zurück, so beschreiben es die Frauen im Stuhlkreis. Carmela erzählt, dass sie als Lehrerin an einer Privatschule eingestellt wurde. 400 Euro habe sie dort bekommen – auch Schwarzarbeit. „Manchmal gab es Kontrollen, dann musste ich mich verstecken.“ Sie bekam erst mal keine SMS und somit weiter Geld vom Staat bis zum neuen Jahr. Doch schon im September habe sie damit begonnen, Waschmittel und Toilettenpapier zu kaufen, aus Angst, sich dieses ohne das Bürgergeld nicht mehr leisten zu können. Seit Januar nimmt sie die Hilfe der Kirche in Anspruch, bekommt an Essensausgaben Lebensmittel. Ihre Mutter unterstützt sie, indem sie ihre Tochter und die Enkelinnen häufiger zu sich zum Essen einlädt.
Die Soziologin und Co-Autorin der wissenschaftlichen Zeitschrift „Armut und Reichtum in Italien“, Enrica Morlicchio, sieht in dem Vorgehen der Regierung einen Angriff auf arme Menschen. Für sie ist die Nachricht, die hinter der Entscheidung steckt, deutlich: „Menschen sollen egal welche Arbeit zu egal welchen Bedingungen annehmen.“
Das Rathaus und lokale Hilfseinrichtungen seien nach der Streichung wochenlang von Menschen geflutet worden. Viele von ihnen mussten aufgrund des großen Andrangs direkt abgewiesen werden. So erzählt es der Bürgermeister von Scampia, Nicola Nardella. Die Entscheidung der Regierung habe wie „eine soziale Bombe“ gewirkt und dem Viertel „Zerstörung“ gebracht. „Viele Familien konnten sich von einem auf den anderen Tag nicht mehr mit dem Nötigsten versorgen.“
Er befürchtet als Konsequenz der fehlenden Hilfeleistung einen Anstieg der Kriminalität, die in den letzten Jahren zurückgegangen war. So berichten es Nardella und Sozialarbeiter in Scampia. Auch glaubt er, dass mit dem Ende des Bürgergeldes das Vertrauen der Bürger:innen gegenüber den Institutionen des Staates gebrochen wurde. Freiwillige, sagt er, können nicht unbegrenzt helfen, es brauche eine Zusammenarbeit aus Organisationen, Institutionen und Bürgerkomitees. „Der Stadtverwaltung fehlen die Mittel, um wirklich etwas zu bewegen.“ In ganz Scampia gebe es nur sieben Sozialarbeiter, die bei der Stadt angestellt seien. Die meisten würden ehrenamtlich helfen, ohne sie befänden sich viele Menschen auf der Straße.
Barbara Pierro ist Anwältin – und eine freiwillige Sozialarbeiterin. Das Bürgergeld nennt sie „reddito di dignità“, Bürgergeld der Würde, weil es den Menschen diese wiedergegeben habe. In Scampia leitet sie eine Organisation mit 30 Ehrenamtlichen, die Familien im Alltag unterstützt. Teil der Organisation ist das Restaurant „Chikù“, das eröffnet wurde, um Frauen eine Arbeit zu geben – vier sind in Festanstellung. Außerdem bietet der Ort mit seiner großen Terrasse einen Treffpunkt, den Frauen in Scampia sonst nirgendwo finden. „Viele von ihnen haben nie das Viertel verlassen. Wir ermutigen sie dazu, sich auch anderes vorzustellen“, sagt Barbara Pierro. Viele, häufig junge Frauen seien einsam, ihre Männer starben während der Fehden von Scampia in den Jahren 2004 und 2005 oder sitzen deshalb im Gefängnis. Die Organisation bietet auch eine Kinderbetreuung und Lernhilfegruppe an, denn die Schulabbrecherquote lag 2020 in Neapel bei 22,1 Prozent.
Gegen Mittag, die Sonne steht nun hoch oben am Himmel und erhitzt die kleine Rasenfläche vor „Le Vele“, löst sich der Stuhlkreis der Frauen auf der Rasenfläche langsam auf. Eine nach der anderen verabschiedet sich, um ihre Kinder von der Schule abzuholen, Essen für sich zuzubereiten oder dieses an Menschen zu verteilen. Patrizia, die Gruppenleiterin, bleibt bis zum Schluss.
Sie erzählt, dass sie zusammen mit den Frauen vor ein paar Monaten in Rom war, um ihrer Wut Luft zu machen. Sie protestierten dagegen, dass das Budget, das für den Abriss und Neubau von Sozialbauten wie „Le Vele“ vorgesehen war, eingestellt werden sollte. Ihre Stimmen wurden gehört – im Viertel laufen inzwischen Bauarbeiten für ein neues Wohnhaus. Bevor auch Patrizia sich zum Gehen wendet, sagt sie: „Wir kämpfen für unser Recht auf ein Zuhause, auf eine anständige Arbeit. Und das tun wir gemeinsam.“