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Nachhaltigkeit und Rock ’n’ Roll

Klimaneutral bis 2045: Um dieses Ziel für Deutschland zu erreichen, müsste sich auch die Musikbranche grundlegend verändern. Wie könnte das gehen?

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Windenergiegitarre

„Gesucht: Nachhaltigkeitsmanager*in bei Band“. Als Mariko Zimmer 2019 diese Anzeige im Internet fand, konnte sie es kaum glauben: ein Beruf, der Musikbranche und Nachhaltigkeit verbindet? Etwas Besseres konnte Zimmer sich kaum vorstellen, nachdem sie bereits in der Musikindustrie arbeitete und ein naturwissenschaftliches Studium abgeschlossen hatte. Und so wurde sie tatsächlich als Nachhaltigkeitsmanagerin bei Milky Chance eingestellt. Die Folktronica-Band aus Kassel, die 2013 mit ihrem Song „Stolen Dance“ international bekannt wurde, hatte den Plan gefasst, Nachhaltigkeit gezielter in ihr Band-Dasein zu implementieren – wusste aber nicht so richtig, wie.

Zimmer stellte die Arbeit der Band auf den Prüfstand: Bei wem wird das Merchandise bestellt, wo wird die Musik aufgenommen, wie viele Reisen werden unternommen, was kann man im Touralltag anders machen? Zur theoretischen Unterfütterung las sie vor allem Studien aus Großbritannien, deutsche Forschungsarbeiten zum Thema konnte sie kaum finden.

Gut zwei Drittel der Gesamtemissionen bei Konzerten entstehen durch die Anreise der Besuchenden

In der Musikindustrie sind unterschiedlichste Bereiche miteinander verwoben – vom Streaming über die Merchandise- und Tonträgerproduktion bis zum Tournee- und Konzertgeschäft. Der ökologische Fußabdruck dieser interdisziplinären Branche als Ganzes ist bisher nicht bekannt. Durch Messungen, die Bands wie Radiohead oder We Invented Paris selbst anhand ihrer Tourneen durchführten, und eine wissenschaftliche Erhebung, die die Band Massive Attack in Auftrag gegeben hat, vermutet man immerhin: Die wichtigsten Stellschrauben für die klimagerechte Transformation im Livegeschäft sind die Stromversorgung, die Energieeffizienz der Veranstaltungsstätten sowie die Anreise von Band und Publikum. Mehr als zwei Drittel der Gesamtemissionen bei Konzerten und Festivals entstehen durch die Anreise der Besuchenden.

Was müsste sich also verändern in der Branche? Wie kann die Musikindustrie dazu beitragen, dass Deutschland sein erklärtes Ziel erreicht, bis 2045 klimaneutral zu sein?

Das wollten auch Sarah Lüngen und Katrin Wipper wissen und entschieden, die Frage an einem konkreten Beispiel durchzuspielen. Für ihr Abschlussprojekt im Rahmen einer Weiterbildung im Bereich Umwelt- und Nachhaltigkeitsmanagement schrieben sie ein Nachhaltigkeitskonzept für fünf Konzerte der Band Seeed in der Berliner Wuhlheide im August 2022. Band und Management fanden das Konzept überzeugend, und Lüngen und Wipper gründeten eine eigene Agentur, The Changency, um es zu realisieren.

Gemeinsam mit dem Studiengang Theater- und Veranstaltungstechnik und -management der Berliner Hochschule für Technik setzten sie die Maßnahmen um: einen bewachten kostenlosen Fahrradparkplatz, das Verteilen von Taschenaschenbechern, das Anbringen von Klimabilanzen an den Essensständen oder das Aufstellen eines Wasserspenders im Backstagebereich. Anschließend untersuchten sie die Wirkung der verschiedenen Handlungsfelder.

Warum ist so lange nichts passiert?

Die Ergebnisse des Projekts, das unter anderem von der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien (BKM) gefördert wurde, veröffentlichten sie in einer Studie. Demnach konnten beispielsweise 3,25 Millionen Liter Wasser vor Verschmutzung bewahrt werden, weil etwa 3.250 Zigarettenkippen statt auf dem Boden in eigens dafür bereitgestellten Sammelbehältern landeten. Die Fahrrad-Garderobe war gut frequentiert (fast jede*r zehnte Besuchende reiste mit dem Rad an), und durch das vegan-vegetarische Catering für Crew und Künstler*innen konnten 1,18 Tonnen CO2 eingespart werden.

Im Grunde ist das Thema Nachhaltigkeit für die Musikindustrie nichts Neues. Jacob Bilabel, der lange bei Universal Music gearbeitet hat und seit 2020 das ebenso von der BKM geförderte Aktionsnetzwerk Nachhaltigkeit in Kultur und Medien leitet, hat bereits 2008 die Green Music Initiative gegründet. Die hat inzwischen mit rund 150 europäischen Festivals an der Umsetzung von Reduktionsstrategien gearbeitet, vor allem in den drei Bereichen Energie, Mobilität und Kreislaufwirtschaft. Aber auch Bilabel ist der Meinung, dass „der Schritt vom Wissen zum Handeln“ noch nicht von genug Menschen in der Branche gegangen wird. Was für einen systemischen Wandel fehle, seien Rahmenbedingungen von politischer Seite. „Im Augenblick gibt es Pionier*innen auf dem Gebiet, die freiwillig auf eigene Rechnung Mehraufwand betreiben. Und das machen die natürlich nur bis zu einem bestimmten Punkt mit“, erklärt Bilabel.

Damit der aktuelle Mehraufwand zu einer lohnenden Investition werde, brauche es Regularien. Solange man zum Beispiel nicht wisse, ob man ein teuer zum Festivalacker verlegtes Stromkabel dort für das Festival im nächsten Jahr liegen lassen könne oder ob man es wieder ausbuddeln müsse, greife man lieber auf die klimaschädlichen, aber bewährten Dieselgeneratoren zurück. Für einen tatsächlich transformativen Prozess müssten außerdem klimaschädliche Subventionen gestoppt werden: „Solange man Diesel und Lkw-Diesel, die sehr niedrig besteuert werden, in die Generatoren kippen kann, wird der dreckigste Kraftstoff natürlich auch verwendet.“

Auch Katrin Wipper wünscht sich Regularien, durch die man „mehr Verantwortung für klimaschädliches Verhalten übernehmen muss und auf der anderen Seite für klimafreundliches Verhalten belohnt wird“. Außerdem fände sie ein allgemeingültiges Regelwerk sinnvoll, durch das Klimabilanzen einheitlich erhoben und ausgewiesen werden, damit die Zahlen wirklich glaubwürdig sind. Auch eine einheitliche Definition des Begriffs „klimaneutral“ wäre aus ihrer Sicht wichtig. „Im Augenblick kann man sich das Label ,klimaneutral‘ durch Kompensationen erkaufen. Dadurch ist es superleicht, nichts am eigenen Verhalten zu ändern.“

Die Politik könne der Musikindustrie ihre Verantwortung nicht abnehmen, heißt es aus dem Ministerium

Natürlich passiere von politischer Seite schon etwas, da sind sich alle einig. Nur passiere zu wenig und zu langsam – und vor allem sei einfach zu lange nichts passiert. Staatsministerin Claudia Roth – die aktuelle Beauftragte der Bundesregierung für Kultur und Medien – hat im April 2022 eigens ein Referat für Kultur und Nachhaltigkeit gegründet. Dieses Referat soll nun vor allem die im Koalitionsvertrag vereinbarte „Anlaufstelle Green Culture“ auf den Weg bringen: ein Kompetenzzentrum, das Wissen und Daten zur ökologischen und klimagerechten Transformation bündeln und Kultureinrichtungen dabei helfen soll, das Klimaneutralitätsziel der Bundesregierung zu erreichen. Außerdem fördert Claudia Roth die Erarbeitung eines Handbuchs für eine nachhaltige Veranstaltungspraxis, unterstützt die Entwicklung von CO2-Bilanzierungsstandards für Kultureinrichtungen und wird dieses Jahr mehrere Green-Culture-Konferenzen durchführen, wie ein Sprecher der Kulturstaatsministerin erklärt. Grundsätzlich könne die Politik der Musikindustrie ihre Verantwortung aber nicht abnehmen, am dringend erforderlichen Transformationsprozess mitzuwirken.

Für Milky Chance hat Mariko Zimmer nachhaltiges Merchandise und Kollaborationen mit NGOs organisiert und dafür gesorgt, dass ein Betrag pro Ticket der Europe Tour 2022 für den Schutz von Urwaldflächen gespendet wird. „Aber man kommt schnell an den Punkt, an dem Dinge einfach nicht umsetzbar sind. Klar wäre es mega, wenn wir einen Tourbus hätten, der mit Solarenergie fährt, aber so etwas gibt es halt nicht.“

Auch auf die Frage, ob der Veranstaltungsort Ökostrom bezieht oder welche Anreisemöglichkeiten das Publikum hat, hätten Künstler*innen keinen Einfluss. „Deswegen denke ich, die größte Stellschraube, die eine Band hat, ist, auf das Thema aufmerksam zu machen.“ Das sieht auch Katrin Wipper so: „Ich denke, dass Musiker*innen den Wandel hin zu einer nachhaltigen Gesellschaft näher zu den Leuten bringen können als Politiker*innen. Irgendwo habe ich mal dieses Zitat gehört: ‚Nobody has a favorite politician, but everybody has a favorite musician‘“.

Titelbild: Jan Q. Maschinski

Dieser Text wurde veröffentlicht unter der Lizenz CC-BY-NC-ND-4.0-DE. Die Fotos dürfen nicht verwendet werden.