Wie gelingt es, als Flüchtling in Deutschland ein neues Leben zu beginnen? Um das mal genauer zu betrachten, werden wir ab heute in mehreren Texten über den Alltag des Syrers Aziz Asaad berichten.

Diese verdammten Artikel. „Für alle Syrer, die ich hier kenne, ist dieser Teil der deutschen Grammatik am schlimmsten“, sagt Aziz Asaad in flüssigem Englisch und radiert leicht genervt in seinem Arbeitsbuch herum. Der Sprachkurs in einem tristen Osnabrücker Bürogebäude zieht sich in die Länge. Auf die Aufgaben kann er sich ohnehin nicht konzentrieren. Immer wieder tippt er Nachrichten in das Smartphone und scrollt seine Facebook-Seite hoch und runter: „Hier, meine Frau.“ Das Profilbild zeigt Lama, strahlendes Lächeln, Doktorhut auf dem Kopf. Beide sind sie aus Syrien geflohen. Aber Aziz hat seine Frau seit fast drei Jahren nicht mehr in den Armen gehalten.

 

Lamas Flug aus Odessa musste Aziz einige Stunden vor dem Unterricht stornieren. Die deutsche Auslandsvertretung hat noch immer kein Visum zur Familienzusammenführung für sie ausgestellt. Die vergangenen Jahre hat sie in der Ukraine verbracht und möchte nun zu ihm nach Osnabrück. Das Dokument einer deutschen Behörde ist das Einzige, was noch fehlt, damit die beiden wieder zusammen sein können.

Dass der 28-Jährige rund 2.000 Kilometer von seiner Frau entfernt sich den Kopf über „der“, „die“ und „das“ zerbrechen kann, ist bereits ein kleines Wunder. Vor gut einem Jahr ist er am Frankfurter Flughafen gelandet. Unterwegs war er nur mit Handgepäck. Außer einem Laptop, den Kleidern an seinem Körper und etwas Geld konnte er nichts mitnehmen.

Bereits vor dem Ausbruch des Bürgerkriegs saß Aziz zwei Jahre im Gefängnis, weil er, wie er annimmt, einen kritischen Artikel über Assads Verbündeten, den Iran, veröffentlicht hatte. Wieder in Freiheit, schloss er sich der – vor wenigen Monaten aufgelösten – moderaten Hazzm-Bewegung an, einer Rebellengruppe, die im Kampf gegen Assads Armee von den USA unterstützt wurde. Als Informationstechniker und leidenschaftlicher Fotograf sollte er den anderen Mitgliedern der Einheit beibringen, ihren Kampf in brauchbaren Aufnahmen zu dokumentieren. Er zeigt Bilder und Videos aus Syrien, von Kämpfern mit Maschinengewehren und Angriffen auf feindliche Stellungen. Zehn bis 15 seiner Freunde und Bekannten sind im Krieg getötet worden. „Das ist vergleichsweise wenig“, sagt Aziz. Er ist sich der traurigen Absurdität dieser Worte bewusst.

Lama war da bereits längst in Odessa und studierte Zahnmedizin. Auch für sie wurde es in Syrien um 2012 herum zu gefährlich, erklärt Aziz. Weil er als Aktivist in den Bürgerkrieg verwickelt war, drohte seiner Frau die Verhaftung. Mit ihr zusammen wegzugehen war aber nicht möglich. „Was ich dort als Aktivist getan habe, war zu wichtig, um Syrien zu dem Zeitpunkt zu verlassen.“ Außerdem sei der syrische Geheimdienst hinter ihm her gewesen – also viel zu gefährlich, um über die Grenze zu gehen. Als er im Februar 2014 bei einem Bombenangriff bereits zum dritten Mal nur mit Glück dem Tod entging, hielt er es nicht mehr aus und lieh sich Geld, um wegzugehen.

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Aziz in seinem neuen Schlafzimmer (Christian Protte)

Aziz sitzt alleine auf seinem Ehebett. Seine Frau Lama hat er schon drei Jahren nicht mehr gesehen

(Christian Protte)

Deutschland kannte Aziz vorher vor allem aus Geschichtsbüchern. Er hat viel über die Weltkriege gelesen, über Luther und die Reformation. Was die Gegenwart angeht, davon hatte er keine Ahnung. Zuerst kam er hungrig und erschöpft bei einem Freund in Berlin unter. Am nächsten Tag meldete er sich offiziell bei einer Außenstelle des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (BAMF). Damit hat er das Recht auf ein Asylverfahren in Deutschland – trotz seiner illegalen Einreise, weil derzeit ein durch das Innenministerium angewiesener Abschiebestopp nach Griechenland besteht. Das wäre als Ankunftsland innerhalb der EU nach der sogenannten Dublin-Verordnung für sein Asyl verantwortlich. Also schickte ihn die Behörde in ein Erstaufnahmelager im thüringischen Eisenberg. Für ihn war die Station rückblickend der Anfang einer Tragödie.

 

Im Lager schliefen laut Aziz 650 Menschen – ausgelegt war es für wesentlich weniger. Manchmal habe er die Nächte draußen verbracht, weil es drinnen viel zu heiß war und gestunken hat. Nach zwei Monaten ging es für ihn ein paar Kilometer weiter, in die Kleinstadt Apolda bei Weimar – der Tragödie zweiter Teil. Zwar sei die Unterkunft angenehmer gewesen, dafür machte die Nachbarschaft Probleme.

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Aziz in seiner neuen Wohnung (Christian Protte)

Die letzten Monate waren anstrengend. Doch auch, wenn vieles noch nicht ganz passt: In Osnabrück fühlt sich Aziz nun endlich wieder wohl

(Christian Protte)

Aziz redet schnell und selbstbewusst. Er wirkt nicht wie jemand, der Mitleid nötig hat. Doch seine rastlosen Augen hinter den Brillengläsern lassen all die Strapazen erahnen, die der junge Mann in den vergangenen Monaten und Jahren erdulden musste. Die Fremdenfeindlichkeit, die er in Apolda erlebt hat, macht ihn immer noch fassungslos.

Einmal stand ein junger Mann in der Fußgängerzone und rief zu Aziz und seinen Freunden rüber: „You Arabs go home!“ Aziz wird lauter und schüttelt den Kopf: „Warum sind die Menschen so wütend? Warum seid ihr nicht freundlich? Eure Häuser und Geschäfte stehen leer, auf den Straßen sind kaum junge Menschen. Die Leute ziehen weg, eure Stadt stirbt, und trotzdem wollt ihr uns nicht dahaben.“

Das war nicht sein einziges Problem. Rund ein halbes Jahr habe es gedauert, bis die örtliche Vertretung des BAMF seinen Antrag auf Asyl bewilligt und ihm eine Aufenthaltsgenehmigung für drei Jahre ausgestellt habe. Für Aziz sechs verlorene Monate.

 „Warum sind die Menschen so wütend? Warum seid ihr nicht freundlich? Die Leute ziehen weg, eure Stadt stirbt, und trotzdem wollt ihr uns nicht dahaben.“

Nach dem Sprachkurs sitzt Aziz am Tisch einer türkischen Imbissbude in der Osnabrücker Innenstadt und hält einen Döner in den Händen. „Ich esse schnell“, sagt Aziz, „das habe ich mir im Gefängnis angewöhnt, da musst du schnell essen.“ Seit etwa drei Monaten wohnt er nun in der niedersächsischen Stadt und fühlt sich dort wohl.

Aziz hatte die Wahl, an welchem Ort er leben möchte. Er hätte nach Berlin gehen können, wo sich einige Freunde für die syrische Opposition engagieren. „Aber ich habe gemerkt“, sagt Aziz, „dass ich müde bin von dem Krieg und alldem.“ Deswegen hat er sich für Osnabrück entschieden: nicht zu klein und nicht zu groß, so ähnlich wie die Stadt Salamiyya, aus der er kommt. Außerdem wohnen bereits einige Verwandte hier.

Inzwischen ist er in seine eigene Wohnung in einer ruhigen Seitenstraße nicht weit vom Stadtzentrum gezogen. Die Miete und rund 400 Euro für den Lebensunterhalt zahlt das Jobcenter. Das reiche kaum, sagt Aziz. Immerhin steht bereits das Schlafzimmer, das er günstig von der Caritas gekauft hat. Es fehlt nur noch ein Küchentisch. „Hier wollen wir ein neues Leben beginnen“, sagt Aziz und ist sicher, dass seine Ehefrau auch bald nachkommen wird. Sie werde als Zahnärztin bestimmt gute Chancen auf dem Arbeitsmarkt haben, und mit seinem Studium als Informationstechniker dürfte auch was möglich sein, sobald sein Deutsch besser ist.

 

Sein Heimatland wird Aziz vielleicht nie wiedersehen. Irgendwann kommen möglicherweise auch seine Eltern nach Deutschland. Auf die Frage, was er denn sonst noch vermisst, muss er nicht lange überlegen: Nichts, gar nichts.

In der nächsten Folge könnt ihr lesen, ob Lama und Aziz wieder vereint sind und wie es mit seinen bestimmten und unbestimmten Artikeln aussieht

Titelbild: Christian Protte