50 Jahre nach dem Summer of Love in San Francisco hat man es auf den ersten Blick nicht leicht, Spuren der Hippie-Kultur zu entdecken. An der berühmten Kreuzung Haight/Ashbury findet sich heute ein hochpreisiger Eisladen. Der einst von Künstlern, Aussteigern und Freigeistern bewohnte Stadtteil ist zur Touristenattraktion geworden. In der Ferne sieht man derweil den noch im Bau befindlichen Salesforce Tower: Mit 326 Metern ist er das höchste Gebäude in der Stadt.

Der nagelneue Turm ist ein Symbol für den atemberaubenden Wandel in San Francisco sowie der gesamten Bay Area samt Silicon Valley. Wo einst die Hippies von einer besseren Welt träumten, wollen heute Unternehmen wie Apple, Facebook, Google und Uber sie mithilfe von High-Tech erschaffen. Was damals „Gegenkultur“ war, ist heute „Disruption“. So nennt man es in der Branche, wenn eine Innovation so bahnbrechend ist, dass sie das bisher auf dem Gebiet Dagewesene ablöst. Oder geht es am Ende doch nur darum, Märkte zu erobern und Gewinne zu steigern, im Zweifel auch auf dem Rücken anderer?

Das Mantra im Silicon Valley: den Wandel selbst gestalten

Was die Tech-Giganten aus dem Silicon Valley mit den Hippies gemein haben, ist der Glaube, dass die Zukunft Veränderung braucht. Wandel hat es schließlich immer gegeben, und manchmal muss man ihn selbst herbeiführen – so das Mantra. Steve Jobs war ein Hippie, als er Apple mitgegründet hat. Er war einige Jahre zuvor tief beeindruckt aus Indien zurückgekehrt. Spiritualität war ihm wichtig, er ernährte sich vegan und suchte nach seinem Platz im Leben. Er gefiel sich auch viel später noch in seiner Rolle als Rebell gegen das „Establishment“ und zeigte sich gern barfuß, als Apple bereits zum Vorreiter der Computer-Revolution aufgestiegen war.

„Revolution“ gehört zum Alltagsvokabular im Silicon Valley, wie beim hoffnungsvollen Aufbruch Ende der 60er

Es gibt weitere Beispiele: Facebook und Google sind an Unis entstanden. Twitter auf einer Kinderrutsche im Park. Und sie alle wollen sich bis heute ein gewisses Gefühl von Freiheit, Grenzenlosigkeit und Rebellion erhalten oder möchten jedenfalls gern so wahrgenommen werden. Das zeigt sich am offensichtlichsten an der Kleidungsordnung: Es gibt keine. Selbst die Chefs der Milliarden-Unternehmen ziehen an, was ihnen gefällt. Ob das nun aus Überzeugung passiert, aus Trotz oder als Teil des Selbstmarketings?

Das kann jeder selbst interpretieren. Klar ist aber trotzdem: Es gilt als schick, sich aufzulehnen, anders zu sein und nichts als gegeben zu akzeptieren. Dass dieses freigeistige Image im Widerspruch zur Marktmacht dieser Unternehmen steht, zu Monopolisierungsvorwürfen, Kritik am Datenschutz oder Produktionsbedingungen, scheint ihm keinen Abbruch zu tun.


Silicon Valley

Feelit app

Connecten als gäb's kein Morgen. Alle paar Monate trifft sich beim Startup and Tech Mixer die Szene. Viele junge Startups hoffen hier auf den Durchbruch

Dieses Selbstbild findet sich auch in den Leitbildern der Unternehmen, die ziemlich großspurig klingen. Der Essens-Lieferdienst Bento Box beispielsweise will „das Restaurant der Zukunft“ erfinden. Der Carsharing-Dienst GetAround möchte „Menschen durch Transport und Tech vereinen“. Und Instagram ist nicht einfach nur eine Foto-App, sondern „inspiriert Kreativität überall auf der Welt“. „Revolution“ gehört zum Alltagsvokabular im Silicon Valley, wie beim hoffnungsvollen Aufbruch Ende der 60er.

Den Mars besiedeln oder doch lieber unsterblich werden?

Während die Flower-Power-Generation auf ein gemeinschaftliches Erwachen hoffte, vertraut das Silicon Valley auf Fortschritt durch Technik. Welche Innovation „the next big thing“ sein wird – da setzen die Großen im Valley gerade auf verschiedene Pferde. Elon Musk zum Beispiel will mit Tesla und SolarCity dafür sorgen, dass Verkehr und Wirtschaft nachhaltig werden und in erneuerbare Energien investieren. Mit SpaceX wiederum ist sein ultimatives Ziel, eine Mars-Kolonie mit mindestens einer Million Einwohnern zu erbauen – damit die Menschheit nicht wie einst die Dinosaurier von einem einzigen Unglück ausgelöscht wird. Einen Schritt sind sie auf diesem Weg schon vorangekommen: In diesem Jahr gelang es der Firma erstmals, Raketen wiederzuverwenden. Daran arbeitet auch Amazons Jeff Bezos mit seinem Nebenbei-Projekt „Blue Origin“. Er will die Schwerindustrie in den Erdorbit auslagern. Richard Branson arbeitet unterdessen mit Virgin (die vom Plattenlabel) Galactic daran, Kurzausflüge an die Grenze der Atmosphäre und darüber hinaus für Gutbetuchte anzubieten.

Der Risikokapital-Anleger Peter Thiel hat persönliche Ambitionen: Er will den Tod überwinden. Manche Wissenschaftler halten es für möglich, dass wir den menschlichen Alterungsprozess noch in diesem Jahrhundert anhalten oder sogar umkehren können. Thiel hat nun Panik, er könnte kurz vor diesem Durchbruch sterben. Also investiert er Teile seines Vermögens in diese Forschung und plant, sich unter anderem mit Infusionen aus jungem Blut fit zu halten. 

Unternehmen wie Google arbeiten nicht zuletzt daran, künstliche Intelligenzen (KIs) zu entwickeln. Ein Durchbruch gelang ihnen mit AlphaGo – das Programm schlug 2016 einen der weltbesten Spieler im asiatischen Brettspiel Go, in dem Menschen aufgrund der quasi unendlichen Anzahl möglicher Spielzüge bis dahin als unbesiegbar galten. Wie nützlich oder gefährlich eine KI sein kann, ist umstritten. Die Idee dahinter: Maschinen erledigen heute bereits viel physische Arbeit und übernehmen zugleich Aufgaben, die Menschen in dieser Form gar nicht leisten könnten. Wie würde sich die Welt verändern? Schlaue Algorithmen könnten viele Menschen den Job kosten, sie können aber auch neue Jobs schaffen, und sie können uns wissenschaftliche und technische Durchbrüche bringen, von denen wir bislang nichts ahnen.

Gruppenkuscheln im Silicon Valley

In der Mittagspause zur Kuschelparty? Egal ob mit Stofftier oder menschlichem Fleisch - ein bisschen was vom Summer of Love ist mit dabei

 

Der Mann, der Flower-Power und Computer-Power vereint

Hippie-Gegenkultur und „Cyberculture“ vereinen sich in einer Person besonders deutlich: Stewart Brand. Der Aktivist und Unternehmer gilt als Mittler zwischen der Hippie- und der Hackerszene. Den 78-Jährigen kann man persönlich erleben, wenn er in San Francisco die monatliche Vortrags- und Gesprächsreihe „Seminars About Long-term Thinking“ moderiert. Hier sprechen Wissenschaftler, Futuristen, Science-Fiction-Autoren und andere über Dinge, die uns noch in Hunderten oder Tausenden von Jahren angehen werden. Zum Beispiel, wie wir unsere Gesellschaft besser und gerechter organisieren können oder wie wir dafür sorgen, dass wir die Erde nicht zerstören. Hinter dieser Vortragsreihe steht die Long Now Foundation, die es sich zum Ziel gesetzt hat, langfristiges Denken zu fördern. Eines ihrer Projekte: eine überdimensionale Uhr, die 10.000 Jahre lang funktionieren soll. Eine Idee, die zunächst so absurd scheint wie Elon Musks Mars-Kolonie oder Peter Thiels Unsterblichkeit. Sie soll dazu anregen, über den zeitlichen Tellerrand des eigenen Lebens weit, weit hinauszuschauen.

Stewart Brand ist zugleich eine entscheidende Figur der Gegenkultur: 1968 veröffentlichte er erstmals den „Whole Earth Catalog“: ein umfangreiches Sammelwerk mit praktischen Tipps und Hinweisen für ein Leben unabhängig von Staat und Gesellschaft. Steve Jobs bezeichnet den Katalog als analogen Vorläufer von Google und „Bibel“ der Hippie-Generation. Andere entdecken auch Facebook-artige Züge am Prinzip des Katalogs, denn Ratschläge aus der Gemeinschaft der Leser machten einen wichtigen Teil des Werks aus. Auch Technik hat hier immer wieder eine wichtige Rolle gespielt. In der ersten Ausgabe beispielsweise fand sich eine genaue Definition eines Desktop-Computers von Hewlett-Packard. Besser bekannt als: HP. Brand führte damals den Begriff „Personal Computer“ ein. 

Stewart Brand sieht Technologie als Erweiterung des menschlichen Intellekts. Im Gespräch mit der britischen Tageszeitung „The Guardian“ sieht er auch an anderer Stelle Parallelen zwischen Flower-Power und Computer-Power, zum Beispiel das alljährliche Kunst- und Musik-Happening „Burning Man“ in der Wüste von Nevada. Die Teilnehmer streifen ihre Alltagsrollen ab, geben sich gerne auch einen neuen Namen und erleben auf dem Festival eine riesige Gemeinschaft. Dieses Gefühl von Freiheit brächten die Teilnehmer dann auch in ihre Start-ups zurück. In den letzten Jahren ist der Luxus in der Wüste eingezogen, und Silicon Valleys Millionäre wollen auch hier nicht ohne Klimaanlage leben. Oder bringen einen Sternekoch mit.

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Handmassage

Beim 30. Geburtstag des Hausprojekts 20 Mission in San Francisco wird schon mal gerne ein Matratzenlager aufgebaut

Am Ende geht es im Silicon Valley doch nur um das eine

In so mancher Hinsicht sind die „Hippies“ im Silicon Valley eben doch auf einem anderen Pfad unterwegs als jene vom Summer of Love in San Francisco. Während man damals von einer Zukunft voller Frieden und Freiheit für jeden träumte, ist das bei den Tech-Visionen von heute nicht immer so ganz klar. Schnelles Wachstum ist die Priorität, getrieben von Risikokapitalgebern. Airbnb will die Hotelindustrie angreifen, aber selbst nicht als Anbieter von Unterkünften angesehen werden. Uber macht immer wieder negative Schlagzeilen, wenn es um die Behandlung der Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen geht. Google, Facebook und Datenschutz – ein sehr undurchsichtiges Thema. 

Während man damals von einer Zukunft voller Frieden und Freiheit für jeden träumte, ist das bei den Tech-Visionen von heute nicht immer so ganz klar

Die Tech-Industrie mit ihren vielen Milliarden US-Dollar Risikokapital und hohen Gehältern wird außerdem dafür verantwortlich gemacht, dass jene Künstler, Aussteiger und Freigeister von damals keinen Platz mehr im San Francisco von heute finden. Die Stadt liefert sich mit New York einen Zweikampf um den Titel des teuersten Wohnortes der USA. Eine Zweizimmerwohnung kostete im Oktober 2017 im Durchschnitt 3.377 US-Dollar pro Monat.  Und während die Fahrzeuge des Nahverkehrs museumsreif aussehen, sind Flotten von brandneuen autonomen Autos auf den Straßen unterwegs. Sie geben einen Ausblick auf die Zukunft.

Fraglich ist nur, wie viele Menschen von dieser Zukunft letztlich profitieren werden. Denn wo sich die Blumenkinder selbstlos für eine bessere Welt einsetzten, müssen Silicon Valleys Unternehmen am Ende Geld verdienen. Das ist an sich erst einmal nicht verwerflich. Es ist nur ein erheblicher Unterschied. Denn Geld bedeutet Macht, die auf unterschiedliche Arten eingesetzt werden kann. Ob man in Socken oder Schuhen revolutioniert, ist da erst mal egal.

Fotos: Laura Morton