Thema – Europa

Suchen Newsletter ABO Mediathek

Grand Hotel Europe

Mit der Wanderausstellung Manifesta holen junge Menschen sich die Welt für 100 Tage in den Kosovo – in der Hoffnung, dass etwas davon bleibt

Manifesta Kosovo

Montagmittag in Pristina. Es sind 30 Grad im Schatten und Edona Kryeziu hat Stress. Sie sucht farbige Folien, solche, die früher im Theater vor Schweinwerfer geklemmt wurden, um farbiges Licht zu erzeugen, und zwar schnell: Kryeziu will ihren Ausstellungsraum abdunkeln, in wenigen Tagen beginnt die „Manifesta“, eine Wanderausstellung für zeitgenössische Kunst. Alle zwei Jahre sucht sie sich einen neuen Austragungsort in Europa. Das Problem in Pristina, rund 200.000 Einwohner:innen, Hauptstadt des Kosovo: Die Folien sind nicht zu bekommen.

Also fragt Kryeziu, typisch für den Balkan, erst mal herum. In einem Fotogeschäft soll es welche geben. Doch wo ist das genau? Die nächste Umfrage ergibt: in der Einkaufspassage. Also los. In besagtem Laden dann Ernüchterung: Von der Folie sind noch genau zwei Zuschnitte da. Nicht das, was Kryeziu sich erhofft hat, aber sie nimmt sie sicherheitshalber mit.

Die Erwartungen an die Manifesta sind riesig 

Seit dem 22. Juli läuft die Manifesta, es ist das bisher größte Kunstevent in der Geschichte des jüngsten Landes Europas. Die Biennale markiert den vorläufigen Gipfel einer überaus positiven Entwicklung der kosovarischen Kulturszene: Der Film „Hive“ gewann das Sundance Festival 2021, das Dokumentar- und Kurzfilmfestival in Prizren wird international immer relevanter. Das Highlight aber ist „Sunny Hill“, das Musikfestival des kosovo-albanischstämmigen Popstars Dua Lipa. Nur zwei Wochen nach der Manifesta-Eröffnung spielten dort Stars wie Skepta und J. Balvin und brachten damit den passenden Soundtrack ins junge Land: Die Hälfte der Bevölkerung im Kosovo ist unter 31.

edona_kryeziuj.jpg

Edona Kryeziuj
Ganz schön hoch gestapelt: Edona Kryeziu zeigt in ihrer Installation Pakete, die Kosovarinnen und Kosovaren aus dem Ausland in ihre Heimat schicken

Nun also die internationale Kunstausstellung. Die Erwartungen sind riesig, nicht nur bei Edona Kryeziu, selbst der Taxifahrer, der sie zum nächsten Fotogeschäft fährt, sagt: „Wenn alles gut geht, komme ich mit meiner gesamten Familie zur Eröffnung. Inshallah!“ Eng mit der Bevölkerung zusammenzuarbeiten ist seit ein paar Jahren ein erklärtes Ziel der Manifesta: Die Ausstellungen sollen aus dem internationalen Kunstjetset ausbrechen, der sich alle zwei Wochen woanders trifft. Ein Besuch der Manifesta ist kostenlos, das Festival finanziert sich durch Investitionen der jeweiligen Austragungsorte und Sponsoren- und Fördergelder. In Pristina beträgt das Budget etwa fünf Millionen Euro. Ziel ist es immer auch, die Probleme der gastgebenden Städte zu adressieren und sie nachhaltig zu verbessern. Oder wie Hedwig Fijen, die Direktorin der Manifesta, sagt: „Wir konnten hier keine Millionenbeträge für Kunst ausgeben, die am Ende bloß an der Wand hängt. Wir mussten verstehen, was der Stadt langfristig guttut.“

In Pristina gehörte bisher fast jeder freie Quadratmeter dem Autoverkehr

Deshalb verpflichtet die Manifesta nicht nur Kurator:innen, sondern auch Architekt:innen. Nach Winy Maas bei der Ausgabe 2020 in Marseille ist es nun der Italiener Carlo Ratti, der baut, vor allem aber über Smart Cities nachdenkt. Ratti schickte Teams los, die mit Bürger:innen sprachen, um ihre Bedürfnisse zu verstehen. Die sind sehr unterschiedlich: In manchen Stadtteilen leben Albaner:innen, Bosniak:innen, Rom:nja, Serb:innen, Türk:innen und andere Minderheiten nebeneinander, also alle der in den Sternen auf der Landesflagge repräsentierten Ethnien. Andere Mitarbeiter:innen des Architekten Ratti und des MIT Senseable City Lab vermaßen Pristina mit Kameras, um mittels künstlicher Intelligenz zu erforschen, wie man die Stadt besser organisieren könnte.

Womöglich hätte natürliche Intelligenz genügt, um festzustellen, dass in Pristina jeder freie Quadratmeter dem Autoverkehr gehört. Und es viele geschichtsträchtige Gebäude gibt, die wiederbelebt werden könnten. Wie die Hivzi-Sylejmani-Bibliothek, die für einen Teil der Ausstellung frisch renoviert und begrünt wurde. Nach dem Ende der Manifesta im November wird sie ein Nachbarschaftstreff mit Bibliothek.

Petrit Halilaj Installation Manifesta
„Wenn die Sonne untergeht, malen wir den Himmel an“: Der Schriftzug des Künstlers Petrit Halilaj thront derzeit auf dem Grand Hotel in Pristina
 

new_grand_installation_manifestaj.jpg

Manifesta Kosovo
Der ehemalige sozialistische Prestigebau ist das Herzstück der Manifesta ...

national_gallery_of_arts_kosovo_manifesta_.jpg

Manifesta Kosovo
... aber es gibt noch viel mehr Orte, die zeitgenössische Kunst zeigen, zum Beispiel die National Gallery of Arts

Andere Eingriffe in die Stadt sind derzeit noch Andeutungen: Rattis Team hat einen guten Kilometer einer stillgelegten und zugemüllten Bahntrasse freigelegt. Derzeit ist der „Green Corridor“ noch arg staubig, aber die gelben Designmöbel und Pflanztröge versprechen schon den Pop-up-Park, der hier entstehen soll. Unweit davon hält ein Berliner Architekturkollektiv Summer Schools in einer alten Ziegelfabrik ab. Unter der Hand gilt die Fabrik als Kandidatin für das nationale Kunstmuseum, das gebaut werden soll. Aber eine Befragung ergab, dass sich die Nachbarschaft im eng bebauten Pristina bei hochsommerlicher Hitze etwas anderes wünscht. Also entsteht dort während der Summer Schools ein temporärer Pool.

Das Herzstück der Manifesta ist aber das ehemals jugoslawische Grand Hotel Pristina, das mitten im Stadtzentrum steht. Anstelle der alten Leuchtschrift auf dem Dach prangt nun ein Schriftzug des Künstlers Petrit Halilaj. „Wenn die Sonne untergeht, malen wir den Himmel an“, steht dort in großen Lettern auf Albanisch. Drinnen erinnern tannengrüne Korridore und schwere Holzvertäfelungen an den Charme, den der im Auftrag des alten Staatspräsidenten und Autokraten Tito errichtete Prestigebau mal gehabt haben muss. Früher galt das Hotel als ein soziales Zentrum der Stadt, heute ist es ein Sanierungsprojekt: Ein Teil ist entkernt, hier sind vom sozialistischen Palast nur rohe Betonwände übrig.

Wer ins Ausland reisen will, verzweifelt nicht selten an der Bürokratie 

In diesem Teil des Hotels stellt Edona Kryeziu aus. Zur Eröffnung sitzt alles, das Folienproblem hat sie gelöst: Statt die Leuchtstoffröhren abzudunkeln, lässt Kryeziu sie einfach von der Decke baumeln. Dazwischen stapeln sich meterhoch Pakete. Kryeziu hat sie für ihre Installation von ein paar der mittlerweile 266.000 Kosovar:innen eingesammelt, die im EU-Ausland leben. Mit solchen von Busunternehmen transportierten Paketen wollen sie Kontakt in die Heimat halten, die weitestgehend isoliert ist: Wer Freund:innen und Familie im Ausland besuchen, verreisen oder woanders studieren will, muss kostenpflichtige Termine bei der Botschaft bekommen, hohe Geldsummen, Bürgschaften und Einladungsbriefe vorweisen, monatelang warten und verzweifelt am Ende nicht selten an der Bürokratie. Viele im Land frustriert das. Der Kosovo ist das einzige Land des Westbalkans, dessen Bürger:innen ein Visum brauchen, um in die Staaten des Schengenraums einzureisen.

redon_kika_portrait_manifesta.jpg

Redon Kika
Redon Kika konnte schon früh reisen – anders als die meisten seiner Altersgenossen im Kosovo

Zwar hat das Land 2018 alle Bedingungen für eine Visaliberalisierung erfüllt, die wird aber bis heute nicht umgesetzt. Denn einige Staaten, darunter fünf EU-Mitglieder, erkennen den Kosovo nicht als Staat an, sondern halten ihn für Staatsgebiet Serbiens. Die Nachbarländer haben sich gerade auf Reisefreiheit geeinigt, tragen seit dem Ende der Sowjetunion aber fast durchgehend Konflikte aus, die 1998 im Kosovokrieg eskalierten.

Je später es wird, desto voller ist die Servis Bar, einer der wenigen Läden, die die Sperrstunde um Mitternacht etwas großzügiger auslegen. Hier treffen sich junge Künstler:innen. Wie die Gruppe NewGrand, die ein paar Räume weiter von Edona Kryeziu im Grand Hotel ausstellt und gerade gegen die laute Musik anbrüllend die Frage diskutiert, wer eigentlich auf der Manifesta ausstellen darf. Laut den Veranstaltern ist das Konzept „radikal lokal“, 60 Prozent der 103 Künstler:innen stammen aus dem Westbalkan. Aber woher genau, macht hier im Kosovo eben einen riesigen Unterschied. Von der NewGrand-Gruppe leben manche im Kosovo, andere Künstler:innen wie Kryeziu in Deutschland.

Könnte der Frust über die fehlende Freiheit neue Kräfte hervorbringen?

Redon Kika ist 20 und im Kosovo geboren. Er hatte früh die Gelegenheit zu reisen, seine Freunde nicht. Also filmte er sie und ließ sie über ihre Sehnsüchte nach Ferne und Reisen reflektieren. Sein Kurzfilm „I have never been on an airplane“ beschreibt die Isolation der kosovarischen Jugend, die im, wie Manifesta-Direktorin Hedwig Fijen es nennt, „größten Gefängnis Europas lebt“. Kika versucht, darin auch Positives zu sehen. Der Frust über die fehlende Freiheit könne neue Kräfte hervorbringen, sagt er. „Außerdem inspiriert es uns Junge, dass immer mehr Menschen aus dem Westen sich für die Kultur hier im Kosovo interessieren.“

Das findet auch Përparim Rama, der Bürgermeister von Pristina. Er meint, der Kosovo solle weniger um die Aufmerksamkeit Europas betteln. „Wir drehen den Spieß um und zeigen, dass wir nicht mehr der Krieg von 1999 sind, sondern die Kunst von 2022.“

Dieser Text wurde veröffentlicht unter der Lizenz CC-BY-NC-ND-4.0-DE. Die Fotos dürfen nicht verwendet werden.