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Die Jungen sollen’s richten

Mitte 20 und schon vor der Klasse: Wegen des Personalmangels schicken die Ministerien zunehmend Studierende an die Schulen. Kann das klappen?

Collage Lehrer skatet auf Schreibtisch

Die älteste weiterführende Schule Sachsen-Anhalts hat schon so manches erlebt. 1582 den Ausbruch der Pest. 1813 die Räumung für ein russisches Lazarett. 1923 die erste weibliche Schülerin. Ob aber jemals ein Student am Gymnasium Zerbst unterrichtet hat, ist nicht überliefert. Falls nein, ist die denkwürdige Geschichte des „Francisceums“ nun um ein Kapitel reicher. Seit Januar nämlich ist dort als Vertretungslehrer Erik Allner angestellt – und der ist 26 Jahre jung. Offiziell studiert Allner gerade im zehnten Semester Mathe und Sport auf Lehramt. Tatsächlich unterrichtet er in acht Klassen Sport, 14 Schulstunden die Woche.

Dass Allner schon jetzt – ohne Staatsexamen und Referendariat – unterrichten darf, hat mit dem drastischen Lehrermangel zu tun. Allein in Sachsen-Anhalt sind aktuell 850 Lehrerstellen nicht besetzt, bundesweit sind es nach Angaben der Länder mehr als 12.000. Lehrergewerkschaften gehen sogar von deutlich höheren Zahlen aus. Und die Prognosen zeigen, dass es noch dicker kommt. Bis zum Jahr 2025 könnten zwischen 25.000 und 70.000 Lehrkräfte fehlen, je nach Studie. Zwanzig Jahre dürfte der akute Personalmangel andauern, schätzen Bildungsforscher. Dafür sorgen die anstehenden Pensionswellen, die steigenden Schülerzahlen und das sinkende Interesse am Lehramtsstudium.

Herr Oberstudienrat Pensionär, bitte kommen Sie zurück!

Keine günstige Kombination für die Ministerien. Sie müssen improvisieren, um den Unterricht gewährleisten zu können. Sie verschicken Briefe an Pensionäre, stellen Quereinsteigern die Verbeamtung in Aussicht, locken Lehrkräfte mit Zulagen in unterversorgte Regionen oder heben die Gehälter an – und verschaffen sich damit einen Wettbewerbsvorteil gegenüber anderen Bundesländern. Besonders kreativ ist Sachsen-Anhalt: Die Landesregierung in Magdeburg setzt Headhunter auf ausländische Lehrkräfte an, erprobt an zwölf Modellschulen ein 4-plus-1-Modell, bei dem Schüler nur noch an vier Tagen Präsenzunterricht haben – und wirbt verstärkt um Studierende, um die Lücken in den Klassenzimmern zu füllen. Wer mindestens vier Fachsemester Lehramt hinter sich hat, darf eigenständig unterrichten. Gut bezahlt, versteht sich. Würde Erik Allner am Gymnasium Zerbst Vollzeit – also 26 Stunden die Woche – unterrichten, stünde ihm ein Einstiegsgehalt von mehr als 3.400 Euro brutto zu. „Wenn man das Studentenleben gewohnt ist“, so Allner, „ist das viel Geld.“

Die Aussicht auf das erste Lehrergehalt hat Allner die Entscheidung leicht gemacht. Nun kann er sich eine Dreizimmerwohnung in seiner Heimatstadt Dessau, 20 Autominuten von Zerbst, leisten. Das Francisceum kennt der Student bereits von einem Pflichtpraktikum. „Ich habe mich damals an der Schule sofort wohlgefühlt“, erinnert er sich. Nach dem Praktikum hat er bereits beim jährlichen Sommercamp ausgeholfen. Als die Schulleiterin ihn dann fragte, ob er nicht als Vertretungslehrkraft für einen pensionierten Sportlehrer einspringen könne, musste er nicht lange überlegen. „Für mich war das eine super Gelegenheit, Unterrichtserfahrung zu sammeln – und dafür sogar noch bezahlt zu werden.“

Letzte Stunde Englisch fällt aus: akuter Lehrermangel

Auch für das Francisceum ist die Vertretung ein Glücksfall, erzählt Schulleiterin Kerstin Görner. „Auf dem Land ist es schwer, genügend Lehrkräfte zu finden.“ Aktuell sind sechs Stellen unbesetzt. Die unteren Klassen erhalten deshalb in Englisch, Ethik, Erdkunde, Religion, Musik und Sport eine Stunde weniger, als es der Stundenplan vorsieht. Ohne Allner sähe es noch düsterer aus. Dass ihr neuer Sportlehrer sehr jung ist, stört die Schulleiterin nicht. „Das Alter ist nicht entscheidend, ob jemand guten Unterricht macht oder nicht“, sagt sie. Das sehe sie auch jedes Mal bei neuen Quereinsteigern. Manchmal klappe es super, manchmal weniger gut. Ihrer Meinung nach sei das Unterrichten ohnehin weniger ein Beruf als eine Berufung. „Und wer die hat, kann auch schon mit Anfang oder Mitte 20 vor der Klasse stehen.“

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Illustration: Renke Brandt

Viele Lehramtsstudierende gehen nicht zur Psychotherapie – denn sie fürchten, später nicht verbeamtet zu werden. Ist die Angst begründet?

Wie viele Lehramtsstudierende bereits an Schulen unterrichten, kann nur geschätzt werden. Die Ministerien wissen teils selbst nicht, wie viele Studierende unter ihren Vertretungslehrkräften sind. Dass es aber immer mehr werden, daran besteht für Till-Sebastian Idel kein Zweifel. Der Erziehungswissenschaftler leitet das Institut für Pädagogik an der Uni Oldenburg. Seit fast 20 Jahren bildet Idel angehende Lehrerinnen und Lehrer aus. Dass Studierende bereits während des Studiums als vollwertige Lehrkräfte eingesetzt werden, sieht er skeptisch: „Es ist völlig unklar, ob und wie die Studierenden an der jeweiligen Schule betreut werden“, so Idel. „Wenn Lehramtsstudierende in Schulen als Aushilfslehrkräfte tätig sind, müssten sie durch geeignete Reflexionsangebote in der Schule und von der Uni begleitet werden.“

Aber selbst wenn die Schulen das gut hinbekämen, sei der frühe Einsatz in der Klasse aus seiner Sicht ungünstig. „Ich kann sehr gut verstehen, warum Studierende so ein Angebot nutzen“, sagt der Professor. „Aber es konterkariert die gesamte Lehramtsausbildung, wenn Studierende parallel zur Uni noch on the job in der Schule ausgebildet werden.“ Dafür gäbe es schließlich das Referendariat, und dort sei eine enge Betreuung durch Fach- und Seminarleiter sichergestellt. Bei Vertretungslehrern hingegen nicht: „Es sitzt ja in der Regel kein Kollege mit im Unterricht, der sich die Stunden anguckt.“ Im schlimmsten Fall schleiften sich in der Vertretungszeit didaktische Fehler ein, die im Anschluss schwer zu beheben seien.

Hier ist was frei geworden – die Kollegin hat Burn-Out

Wie wenig sich manche Schulen um die jungen Kollegen kümmern, kann Henry König berichten. An dem Gymnasium, an dem der 29-jährige Lehramtsstudent im vergangenen Herbst eigentlich sein Praxissemester machen wollte, fiel kurzfristig die einzige Ethiklehrerin der Schule aus. Burn-out. Die Betreuungslehrkraft stellte König vor die Wahl: Entweder er unterrichte selbst – oder er müsse seine Pflichtstunden anderweitig organisieren. König entschied sich für die Vertretung, um die Erfahrung mitzunehmen – bezahlt wurde er nicht. Sechs Wochen lang unterrichtete er Ethik in den neunten Klassen. Heute blickt er mit gemischten Gefühlen auf die Erfahrung. „Ich glaube, ich habe es ganz gut gemacht“, sagt König. Die Schüler jedenfalls hätten ihm ein gutes Feedback gegeben. Gleichzeitig habe er sich von der Schule etwas alleingelassen gefühlt. Eine fachliche Betreuung war wegen der ausgefallenen Kollegin ja von vornherein nicht möglich. Und sein Ansprechpartner im Kollegium sei ihm keine große Hilfe gewesen.

Auch deshalb lehnte König das Angebot ab, die Kollegin auch nach Ende des Praxissemesters weiter zu vertreten. Stattdessen heuerte er an einer nichtstaatlichen Schule an, bei der die Kinder selbst entscheiden sollen, was und wie sie lernen. Zwanzig Stunden die Woche unterrichtet er dort. Nebenher schreibt er seine Masterarbeit über Burn-out im Schulsystem. Für einen kompletten Lehrer hält sich König aber trotz seiner Erfahrung vor der Klasse noch nicht: „Ich sehe, dass andere bei der Auswahl und Anwendung didaktischer Methoden viel sicherer sind.“ Eine Fertigkeit, die er sich vom Referendariat erwartet – wenn er denn überhaupt je an eine staatliche Schule geht. „Ich bin gerade unsicher, ob ich das wirklich möchte.“ Seine bisherigen Erfahrungen hätten ihm gezeigt, dass sich Lehrkräfte, die ihren Job gut machen wollen, in diesem System aufreiben. Der akute Lehrermangel und der Umgang damit mache wenig Mut, dass sich daran so bald etwas ändert.

Sportlehrer Erik Allner hingegen hat das Unterrichten am Gymnasium Zerbst in seiner Berufswahl bestätigt. Der Einstieg sei aber auch für ihn hart gewesen, räumt er ein: „Am Anfang konnte ich den Schülern nicht in die Augen schauen, da musste ich mich voll auf meine vorbereitete Stunde konzentrieren.“ Was es nicht unbedingt leichter macht: Allner ist, wie er selbst sagt, relativ klein und sieht selbst für seine 26 Jahre jung aus. „Da testen die Schüler natürlich gerne, wie weit sie gehen können.“ Mittlerweile aber fühle er sich deutlich sicherer – auch weil er gut unterstützt werde vom Kollegium. Und so probiert Allner jetzt auch schon ein paar Dinge aus. Zum Beispiel, ob Jungs in der sechsten Klasse Spaß an Tanzchoreografien haben können. Erster Eindruck: können sie. „Die, die erst am meisten geschrien haben, basteln jetzt an ihrer eigenen Choreo.“ Bis zum Ende des Schuljahres kann sich Allner weiter ausprobieren, dann endet sein Vertrag. Dann muss er zurück an die Uni, sein Studium abschließen und danach sein Referendariat. Und das Gymnasium Zerbst muss sich wieder einen neuen Sportlehrer suchen.

Collage: Renke Brandt

Dieser Text wurde veröffentlicht unter der Lizenz CC-BY-NC-ND-4.0-DE. Die Fotos dürfen nicht verwendet werden.