Thema – Terror

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„Mir wurden Freiheit, Beruf und Existenz geraubt“

Vor einem Jahr floh unsere Autorin aus Kabul nach Berlin. Es war bereits das zweite Mal, dass sie wegen der Taliban ihre Heimat verlassen musste

Zainab Farahmand

Ich war noch keine 30 Jahre alt, als ich zum zweiten Mal aus meinem Heimatland flüchten musste. Als die Taliban 1996 zum ersten Mal Kabul einnahmen, war ich noch ein Kleinkind. Eine Rakete traf unser Haus, und mein Vater brachte meine Schwestern, meine Mutter und mich zu Verwandten in Kabul. Ich weiß nicht mehr, wie viele Tage mein Vater besorgt zwischen den Stadtteilen hin und her hetzte. Auf der einen Seite der Stadt versuchte er, seine Familie zu beschützen, und auf der anderen Seite der Stadt hatte er Mühe, sein zerbombtes Haus zu erhalten. Als die Taliban in Nordafghanistan anfingen, Hazara zu töten, wussten wir, dass wir nicht länger bleiben konnten. Denn wir sind ebenfalls Hazara, eine ethnische Minderheit, die sich überwiegend aus Schiiten zusammensetzt und seit Jahrzehnten von der sunnitischen Mehrheit in Afghanistan unterdrückt und diskriminiert wird. Wir mussten unser Zuhause innerhalb eines Tages verlassen. Wir wurden zu Migranten.

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Wir flüchteten nach Iran. Ich kann mich nicht an viel erinnern, denn ich war noch klein. Aber als meine ältere Schwester und ich in die Schule gehen sollten, ging das nicht. Wir wurden in einem Zentrum für iranische Frauen unterrichtet. Meine Schwester und ich waren die einzigen Kinder. Mein Vater bezahlte die Lehrerin dafür. Illegal natürlich. Einmal kamen die iranischen Behörden ohne Vorankündigung, und unsere Lehrerin musste uns verstecken. Damals verstand ich nicht, warum. Es war, weil wir aus Afghanistan kamen. Obwohl wir dieselbe Sprache sprachen – Persisch, genannt Dari in Afghanistan und Farsi in Iran.

Nach den Terroranschlägen am 11. September 2001 beschlossen die USA, die Taliban anzugreifen. Zwei Jahre später bereiteten wir uns auf unsere Rückkehr vor. Als ich 2003 in mein Heimatland zurückkehrte, war ich immer noch jung, voller Träume und Energie. Afghanistan war gerade aus der Asche des Krieges auferstanden. Viele Familien hatten mit Armut zu kämpfen. Tagsüber ging ich zur Schule, nachts webte und häkelte ich, um mit handgefertigten Kissen meine Ausbildung bezahlen zu können. 

Axel Springer Gebäude
Schon in Afghanistan arbeitete Zainab als Journalistin und berichtete zum Beispiel für „Die Welt“ aus ihrem Heimatland. Hier sitzt sie im Büro der Zeitung in der Axel-Springer-Straße
 

Je mehr Zeit verging, desto mehr Hoffnung bekamen die Menschen zurück. Auch ich hoffte langsam wieder auf eine bessere Zukunft. Täglich wurden mehr Gassen gepflastert, und der städtische Wohlstand nahm langsam zu. Ich ging nach Kabul zum Studieren und machte meinen Abschluss. Ich bekam einen Job als Journalistin. Ich hatte Pläne für die Zukunft. Ich schrieb über Krieg, Politik, Gesellschaft und Frauenrechte. 

2014 gab die NATO das Ende ihres Kampfeinsatzes in Afghanistan bekannt. In der anschließenden Mission „Resolute Support“ sollten afghanische Streitkräfte ausgebildet und beraten werden. Die Nachrichten berichteten über mehr Präsenz der Terrorgruppe „Provinz Khorasan“, ein lokaler Ableger des sogenannten Islamischen Staats. Sie steht in feindlicher Konkurrenz zu den Taliban, beide Organisationen sind islamistisch, gewaltbereit und kämpfen um die Vorherrschaft in Afghanistan. Täglich wurden wieder mehr Menschen entführt und ermordet. 2015 wurden sieben Hazaras, darunter ein neunjähriges Mädchen, entführt und dann enthauptet. Das Schlimmste daran, Journalistin in Afghanistan zu sein, war für mich, dass ich Opfer und Hinterbliebene von Selbstmordattentaten interviewen musste und nichts tun konnte, um ihnen zu helfen. Über Jahre hinweg.

Der NATO-Rückzug verändert alles

Bis ich über Nacht alles verlor, was ich mir aufgebaut hatte. Mir wurden Freiheit, Beruf und Existenz geraubt. Im Frühsommer 2021 schlossen die Botschaften einiger Länder in Kabul – aus Angst, die Taliban könnten nach Kabul zurückkehren, nachdem die NATO-Mission unter chaotischen Umständen beendet worden war. Ich beantragte Visa bei denen, die noch offen waren, erhielt aber nie eine Antwort. Ich konnte mir die Zerstörung nicht mehr länger anschauen. Und außerdem war ich nun selbst wieder in Gefahr.

Die Taliban haben ein Problem mit den Stimmen und Gesichtern von Frauen. Ihrer Meinung nach sollte eine Frau völlig gehorsam sein. Ihrer Meinung nach ist eine Frau, die alleine auf die Straße geht, eine Prostituierte. Ihrer Meinung nach sollte eine Frau immer von einem Mann begleitet werden, wenn sie auf Reisen ist. Dass eine Frau kein Recht mehr haben sollte, sich in den Medien zu zeigen oder dort zu publizieren, machte mir Angst. Das wirkte sich auf meine Psyche und meinen Körper aus: Ich hatte keinen Appetit mehr und konnte nicht schlafen. In Kabul zu überleben war jetzt Glückssache. Ich wusste nicht mehr, ob ich abends zurückkehren würde, wenn ich morgens aus dem Haus ging. 

ubahn
Angekommen? Mittlerweile lebt Zainab seit einem Jahr in Berlin. Auch ihre Familie ist nach Deutschland nachgezogen

Der Tag, an dem ich mein Heimatland zum zweiten Mal zurückließ, war ein Sonntag. Meine Schwester und ich gingen zu Fuß nach Hause, weil kein Auto mehr in den Westen von Kabul fuhr. Ich hatte Angst, erkannt zu werden. Mein Vater kam uns entgegen. Da rief mich ein Kollege aus Berlin an und riet mir, sofort zum Flughafen zu fahren. Die Taliban waren in Kabul. Keiner wusste, was als Nächstes passieren würde. Ich ging mit meinem Vater und meiner Schwester nach Hause, um meinen Pass zu holen. Ich konnte mich noch nicht einmal richtig von meiner Familie verabschieden. Ich packte nur schnell ein paar Sachen und meine Dokumente. Unterwegs griffen mich bewaffnete Männer an. Ich stand unter Schock, aber ich hatte keine Zeit zum Nachdenken. Irgendwie schaffte ich es zum Flughafen. Dort angekommen, schien erst mal alles normal – bis ein Flug nach dem anderen storniert wurde. 

Die Taliban hatten den Flughafen erreicht. Ich wusste nicht, ob ich überleben würde. Doch am 15. August 2021, mitten in der Nacht, saß ich in einem Flugzeug, das abhob. 

Wir landeten bei Sonnenaufgang. Keiner meiner Mitreisenden wusste, wo wir waren. Beim Aussteigen sagten uns Soldaten, wir seien in Doha. Wir hatten zwei Tage lang keinen Zugang zum Internet, und ich erfuhr nichts über die Situation in Kabul. Drei oder vier Tage später, als ich endlich Zugang zum Internet hatte, erfuhr ich, die Taliban hatten Kabul ganz eingenommen, andere Frauen kehrten nicht zu ihren Jobs zurück. Viele Menschen wurden am Flughafen getötet, von dem ich noch Tage zuvor abgeflogen war. 

Ein Jahr nach dem Regimewechsel hat sich die Situation für die Menschen nicht verbessert. Ich verfolge weiterhin die Nachrichten über Afghanistan im Internet und im Fernsehen. Genau wie mein Vater sich vor 20 Jahren täglich die Nachrichten über Afghanistan im Radio anhörte und im Fernsehen anschaute. Ich mag Afghanistan verlassen haben, aber ich bin im Geiste noch da. Immerhin ist meine Familie inzwischen in Deutschland und damit in Sicherheit. Trotzdem wache ich jede Nacht aus Albträumen auf. Ich hoffe, dass ich hier zu einem normalen Leben zurückkehren kann. Die Taliban beraubten viele Frauen ihrer Rechte. Menschen, insbesondere Frauen, werden ihre Jobs, ihr Zuhause und ihre elementarsten Rechte vorenthalten. Die Welt darf diese Terrorgruppe nicht anerkennen.

Übersetzung: Peggy Strachan 

Dieser Text wurde veröffentlicht unter der Lizenz CC-BY-NC-ND-4.0-DE. Die Fotos dürfen nicht verwendet werden.