Thema – Terror

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Die letzte Frauenstimme Kabuls

Auf Begum FM senden Moderatorinnen Sprachunterricht und psychologische Fürsorge ins afghanische Radionetz. Der Sender hält sich seit der Machtübernahme der Taliban – die Frage ist nur, wie lange noch

Begum FM

„Der Tag, an dem die Taliban an die Macht kamen, war der schrecklichste Tag unseres Lebens“, sagt Hamida Aman. Die Gründerin des Radiosenders Begum sitzt in einem Sessel mit weichen Polstern im ersten Stock eines Backsteingebäudes in Kabul, der Hauptstadt Afghanistans. Ein Bollerofen kämpft in ihrem Büro gegen die kalte Luft an, die durch die dünnen Glasscheiben in den Innenraum dringt. Im Erdgeschoss sitzt ein halbes Dutzend Frauen hinter Computerbildschirmen, ein dicker Vorhang trennt ihren Arbeitsbereich vom Rest des Raums. Sichtschutz, „wegen der Taliban“, sagt Aman. Dann beginnt sie, von diesem Tag zu erzählen. 

„Als der Anruf kam, war ich in Frankreich“, erzählt Aman. Es war der 15. August des vergangenen Jahres, ein Sonntag, um sechs Uhr morgens. Angestellte des Radiosenders erzählten, dass die Taliban in Kabul seien. „Ich konnte die Panik im Sender durch das Telefon spüren, hörte die Kolleginnen schreien. Alle waren verängstigt und besorgt. Es war schrecklich“, sagt Aman. Trotz der unsicheren Lage im Land kehrte Aman zurück nach Kabul, zu ihrem Radiosender. „Ich konnte die Frauen hier nicht im Stich lassen“, begründet Aman ihre Rückkehr.

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Hamida Aman in ihrem Büro
Sie fragte die Taliban, ob sie weitersenden dürfen: Hamida Aman in ihrem Büro in Kabul

Laut „Reporter ohne Grenzen“ wurden rund 60 Prozent aller afghanischen Journalistinnen und Journalisten bis Ende November 2021 arbeitslos. Vor allem Frauen wurden aus den Medien gedrängt, von ihnen seien mittlerweile 84 Prozent ohne Arbeit. Einen Monat nach der Machtübernahme sprach Aman mit den Taliban, bat sie, weitersenden zu dürfen. Jetzt ist Radio Begum nach eigener Auskunft der einzige Radiosender Afghanistans, der von Frauen betrieben wird – und einer der wenigen überhaupt, die noch senden. „Wir durften weiterarbeiten, weil unser Fokus nicht auf Nachrichten liegt“, sagt sie. Der Schwerpunkt des Senders liege auf Bildung und Aufklärung, weniger auf Politik und aktuellen Geschehnissen. Aber auch Radio Begum musste sich den neuen Machthabern anpassen: „Wir mussten das Entertainment-Programm verändern“, so Aman. Weniger Musik, ruhigere Musik. Auch gibt es klare Regeln: Keine Berichte über illegale Demonstrationen oder lokale Aufstände. „In Afghanistan als Journalistin zu arbeiten war noch nie einfach, jetzt ist es aber noch schwieriger geworden“, sagt die Gründerin. Der öffentliche Raum sei für Frauen geschlossen, Recherchen vor Ort kompliziert.

 In einem hohen Raum neben Amans Büro mit dem Bollerofen steht Sediqa Ahmadi auf einem Podest. Vor ihr: zwei Mikrofone und sechs Mädchen, die auf hohen Stühlen sitzen. Unruhig rutschen sie hin und her. Ein Techniker sitzt vor einem Bildschirm, Audiowellen zucken über den Monitor. Ahmadi ist Angestellte beim Radiosender Begum und von Anfang an dabei, seit der Gründung im März 2021. „On Air Schooling“ heißt der Programmpunkt, der Mädchen von der sechsten bis zur zwölften Klasse Zugang zu Bildung ermöglichen soll. Die Schulstunden werden aufgenommen und über den Radiosender verbreitet. Heute steht Paschtuunterricht auf dem Programm. „Wie nennt man das traditionelle Reiterspiel in Afghanistan?“, fragt sie in Paschtu, neben Dari eine der beiden Amtssprachen in Afghanistan. Dann übersetzt sie ihre Frage in Dari.

Ein Mädchen mit rotem Kopftuch streckt ihren Finger in die Luft. „Buzkaschi, Buzkaschi“, sagt sie. Ahmadi nickt, das Mädchen rutscht von seinem hohen Stuhl und spricht seine Antwort auf Paschtu in das Mikrofon. Buzkaschi ist eine Sportart, bei der 20 oder mehr Reiter versuchen, eine tote Ziege vom Boden aufzunehmen und zu einem Preisrichter zu bringen. Jeder spielt gegen jeden. Um an die Ziege zu gelangen, ist alles erlaubt. Ahmadi nickt zufrieden, der Techniker streckt den Daumen in die Luft, Aufnahme passt. 

Neben der Schulstunde bietet Ahmadi Hörerinnen über das Telefon psychologische Unterstützung an. „Viele rufen bei uns an, weil sie depressiv sind“, sagt Ahmadi. Frauen dürfen nicht mehr alleine nach draußen, Familien haben Schwierigkeiten, ihre Kinder zu ernähren. „Das schlägt auf die Psyche“, fügt sie hinzu. Die studierte Psychologin möchte mit der Telefonsprechstunde Abhilfe schaffen. Seit der Machtübernahme der Taliban hätten sich diese Anrufe gehäuft, 60 bis 70 Prozent mehr Frauen würden sich mit Depressionen an den Radiosender wenden, so Ahmadi. „Wenn die Taliban die Frauen in Afghanistan weiterhin so stark einschränken, werden die psychischen Probleme vor allem in der weiblichen Bevölkerung stark zunehmen“, prognostiziert Ahmadi. Sie ist sich sicher: „Als Psychologin werde ich in Afghanistan noch viel Arbeit haben – auch ohne Radio.“

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Sediqa Ahmadi
Telefonfürsorge on air: Sediqa Ahmadi versucht, übers Mikrophon zu helfen

In einem Aufnahmestudio sitzt Saba Chaman hinter einem schmalen Tisch, schalldämmende Holzvertäfelung an den Wänden, ein Mikrofon hängt von der Decke. Chaman spricht ruhig und bedacht, jedes Wort legt sie sich zurecht. Sie ist seit knapp einem Jahr Direktorin bei Radio Begum. Früher, sagt sie, wollte sie nur aus persönlichem Interesse Journalistin werden, inzwischen sei es eine öffentliche Aufgabe – mit großer Verantwortung. „Wir können es uns nicht leisten, eine neue Generation von Extremisten heranzuziehen“, sagt sie. Wer Extremisten heranziehe, bringe jeden in Gefahr. Daher fordert sie: Die internationale Gemeinschaft solle den Menschen in Afghanistan zur Seite stehen und die Taliban nicht als Regierung in Afghanistan anerkennen. „Wir haben genug gelitten“, sagt Chaman. Sie befürchtet, dass die politische Situation in Afghanistan sich verschlechtern wird. Sollte die internationale Gemeinschaft die Taliban anerkennen, werden sie sich verändern. „Dann nehmen sie uns die restlichen Freiheiten weg.“

Auch Ziauddin Bakhtyar ist sicher, dass sich die Situation für die Medien in Afghanistan weiter stark verändern wird, wenn die Taliban anerkannt werden. Der 37-Jährige ist einer der wenigen männlichen Angestellten bei Radio Begum. Seit 2004 arbeitet Bakhtyar in der afghanischen Medienlandschaft. „Der Medienboom in Afghanistan, den wir die vergangenen 20 Jahre erlebt haben, kam durch die Machtübernahme der Taliban zu einem abrupten Ende“, sagt er. 50 Prozent aller Radiostationen mussten schließen, viele Journalistinnen sind geflohen. Zwar haben sich die Taliban verändert, inzwischen dürfen etwa Frauen mit männlicher Begleitung auf die Straße, aber, so Bakhtyar: „Es ist schwierig abzuschätzen, was die Taliban versprechen und was sie am Ende umsetzen. Wir können diesen Leuten nicht vertrauen.“ Er befürchtet indirekte Repressionen durch die neuen Machthaber: Steuern für Medienunternehmen oder Akkreditierungen, die es nur noch bestimmten Journalisten ermöglichen, an Presseinformationen zu gelangen.

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Ziauddin Bakhtyar und Hamida Aman auf der Terrasse
Ziauddin Bakhtyar ist einer der wenigen Männer, die bei Begum arbeiten. Hier steht er in einer kurzen Pause mit Hamida Aman auf der Terrasse

Ein weiteres Problem sind die mangelnden Einnahmequellen für Radiosender wie Begum. „Unsere Hauptsorge sind nicht mehr die Taliban, sondern die fehlenden Einkommensmöglichkeiten“, sagt Hamida Aman, die Radiogründerin. Vor der Machtübernahme spülte Werbung von Verlagen, Nahrungsmittelkonzernen oder Banken Geld in die Kassen. „Damit konnten wir wenigstens Teile der Ausgaben decken.“ Inzwischen zahle sie den laufenden Betrieb des Radiosenders aus eigener Tasche. Lange, sagt sie, halte sie das nicht mehr durch. Dann verstumme der letzte Radiosender für Frauen in Afghanistan. Gut möglich, dass die Taliban darauf spekulieren und den Sender deshalb bislang ohne großes Aufsehen weiterlaufen lassen.

Dieser Text wurde veröffentlicht unter der Lizenz CC-BY-NC-ND-4.0-DE. Die Fotos dürfen nicht verwendet werden.