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Sag jetzt nichts Falsches

Man soll ja nicht lügen, schon klar. Aber es gibt durchaus Situationen, in denen es moralisch gerechtfertigt sein kann, etwa in Unrechtsregimen. Khaled rettete das Lügen vielleicht sogar das Leben

Khaled beginnt zu lügen, als er in den Krieg ziehen soll. Es ist das Jahr 2015, Khaled ist 31, er lebt in Damaskus, arbeitet als Kostümdesigner und Schauspieler für das syrische Fernsehen. Seit Jahren herrscht in seiner Heimat ein Bürgerkrieg zwischen dem Regime des syrischen Machthabers Baschar al-Assad, der Opposition und dem sogenannten Islamischen Staat. Hunderttausende Menschen sind bereits gestorben, Millionen wurden zur Flucht gezwungen. 

Von einem Bekannten in der Militärverwaltung erfährt Khaled, dass er in zwei Wochen eingezogen werden und in der syrischen Armee kämpfen soll. Einer Armee, der schwere Kriegsverbrechen vorgeworfen werden. Doch in Syrien gilt eine allgemeine Wehrpflicht: Alle Männer über 18 Jahre müssen einen mindestens 18-monatigen Militärdienst ableisten. „Ich musste einfach weg“, sagt Khaled.

Um seine Flucht zu finanzieren, versucht er, seine Habseligkeiten zu verkaufen. „Meine Nachbarn wurden misstrauisch, haben gefragt, ob ich etwa abhauen will.“ Das Damaskus des Jahres 2015 beschreibt Khaled als eine Stadt, die „überall Augen hat“. Assads Regime überwacht die Menschen, vor allem Männer im kampffähigen Alter. Offiziell hätte Khaled niemals ausreisen dürfen. „Ich habe dann allen erzählt, dass mein Mietvertrag plötzlich gekündigt wurde und ich gezwungen bin, zu den Eltern meiner Freundin zu ziehen.“ Erst diese Geschichte verhindert weitere Fragen. Heimlich reist Khaled ab.

Wenn Lügen zur Überlebensstrategie werden

Sein Plan ist klar: Über den Libanon will er nach Europa. Weniger klar ist, wie er in den Nachbarstaat gelangen soll. „Die Grenzposten haben mich verdächtigt, aus Syrien fliehen zu wollen.“ Khaled hat von Menschen gehört, die eine falsche Antwort bei so einer Grenzkontrolle mit Jahren hinter Gittern oder gar ihrem Leben bezahlt haben. Er muss sich etwas einfallen lassen – und zwar schnell. „Da habe ich gesagt, dass ich eine patriotische Dokumentation für das syrische Fernsehen drehen will und in den Libanon reise, um Kostüme zu besorgen.“ Der Grenzposten glaubt Khaled nicht sofort, er will Beweise. Khaled präsentiert Unterlagen, die ihn als Mitarbeiter des syrischen Fernsehens ausweisen – Belege für die patriotische Doku hat er keine. Er redet drauflos. „Ich habe ein immer größeres Lügengebäude errichtet.“ Seine angebliche Dokumentation solle von historischen Heldentaten syrischer Soldaten handeln. Irgendwann hellt sich die Miene des Grenzers auf. Khaled ist erleichtert – um gleich im nächsten Augenblick zu merken, „dass ich es übertrieben habe“.

Der Grenzsoldat glaubt offenbar, einen bekannten, patriotisch gesinnten Fernsehmacher aus der Hauptstadt vor sich zu haben. Er ruft seinen Vorgesetzten, der mehr über die Dokumentation wissen will. Khaled lügt und lügt. Als er sich von den Soldaten verabschiedet, rufen sie ihm freundlich ein „Bis morgen!“ hinterher. Sie glauben, dass er schon am folgenden Tag mit historischen Kostümen im Gepäck wieder vor ihnen stehen wird. Khaled hat es geschafft. Nur um zu merken, dass er sich zu früh gefreut hat.

Über den Libanon gelangt er zwar in die Türkei, der weitere Weg nach Norden will aber lange nicht gelingen. Khaled findet keinen Schleuser, der ihn für das wenige Geld, das er noch hat, nach Griechenland schmuggelt. Er schläft in einer dreckigen Unterkunft mit zehn anderen Männern, die sich im Gespräch als radikale Islamisten zu erkennen geben. „Die haben mich bedrängt, wollten meine politische Einstellung erfahren.“ Und so lügt Khaled weiter und erzählt den Männern, er sei ein besonders frommer Muslim, der wegen seiner freundlichen Haltung zum Islamischen Staat in Syrien Probleme hatte und ausreisen musste. Die Männer glauben ihm. Erst als Khaled endlich in Griechenland landet und später nach Deutschland kommt, ist für ihn das Lügen vorbei. Am Ende ist es seine wahre Geschichte, die dafür sorgt, dass er als Flüchtling erst mal hierbleiben darf und nicht abgeschoben wird.

Titelbild: Robert Schlossnickel/plainpicture

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