
Sollten Länder vom ESC ausgeschlossen werden?
Seit Russland 2022 von der ESC-Bühne verbannt wurde, wird darüber diskutiert: Sollten alle Länder bei dem Wettbewerb mitmachen dürfen, unabhängig vom Vorgehen ihrer Regierungen? Oder ist es wichtig, Grenzen zu ziehen? Unsere Autorin und unser Autor, beide ESC-Fans, streiten
Ja! Popkultur ist längst politisch, und Demokratie, Freiheit und Toleranz müssen mehr denn je geschützt werden
findet Silvia Silko
So viel Krise war schon lange nicht mehr. Die Lage der Welt ist angespannt, die Problemherde sind zahlreich: In der Ukraine und im Nahen Osten herrscht Krieg, die USA unter Donald Trump kündigen die transatlantischen Beziehungen zu Europa. Und in Deutschland sorgen sich viele um Regierungskrise, Inflation und das Erstarken rechtspopulistischer bis rechtsextremer Strömungen.
Das Private war noch nie wirklich unpolitisch. Aber vor allem jetzt ist eine Abgrenzung von dem, was um uns herum passiert, unmöglich: Jeder Bereich unseres Lebens ist von Politik durchtränkt. Auch Popkultur ist längst politisch. Das ständig herangezerrte Credo der ESC-Macher*innen, dass der Eurovision Song Contest eine unpolitische Veranstaltung sei, ist längst hinfällig. Im Konfettiregen feiern, während die Welt um uns explodiert? Wohl kaum!
Popsongs können Konflikte verhandeln oder Fortschritt begleiten, und das viel rascher und intensiver als etwa die Politik oder andere internationale Organisationen. Musiker*innen können ungefiltert Missstände besingen, können durch Image, Stimme und Auftreten für Wandel sorgen und auf Social Media auf Problemlagen aufmerksam machen. Ganz prominent hat etwa Beyoncé es im vergangenen Jahr mit ihrem Album „Cowboy Carter“ geschafft, dass es eine Form der Geschichtsrevision Schwarzer Kultur und Historie gibt: Beyoncé setzte mit ihrer Platte den Schwarzen Ursprüngen des Country, die von der weißen und konservativen Musikindustrie gerne verschwiegen werden, ein Denkmal. Und sorgte so für einen Impuls, sich neu mit Schwarzer Geschichte zu beschäftigen.
Der ESC muss seine Grundwerte wahren
Vergleichbares passiert beim ESC: Während in verschiedenen europäischen Ländern die Rechte und die Offenheit für die LGBTQIA+-Community infrage gestellt werden und gegen sie Politik gemacht wird, wurde beim ESC 2024 Nemo auf den ersten Platz gewählt: Eine non-binäre Person, die im Song „The Code“ davon singt, dass sie sich der gesellschaftlichen Einteilung in lediglich zwei Geschlechter nicht mehr unterordnen wird. Somit wurde ein emotional geführter Diskurs auf eine der größten Bühnen Europas mit weltweit über 160 Millionen Zuschauer*innen gehoben. Genau wie 2022, als Kalush Orchestra für die Ukraine den Sieg einfuhren, der damals zu Recht als Symbol für die Solidarität Europas mit der angegriffenen Ukraine gewertet wurde.
Pop ist politisch. Umso wichtiger, dass der ESC als Gipfeltreffen der internationalen Popwelt seine Grundwerte wahrt: Gemeinschaft, Respekt und Inklusion. Hierfür muss die European Broadcasting Union (EBU) sorgen, die das Event organisiert und als Zusammenschluss von derzeit 68 Rundfunkanstalten Europas, Nordafrikas und Vorderasiens agiert. Es war entsprechend die richtige Entscheidung der EBU, Russland vom Wettbewerb auszuschließen, nachdem Russland die Ukraine angegriffen hat. Die Teilnahme Israels, wenige Jahre später, wurde nicht untersagt, was der EBU Kritik und weitreichende Diskussionen einhandelte. Israels Kandidatin Eden Golan musste den Songtext ihres Stückes „October Rain“ entscheidend ändern und jede potenziell politische Message entfernen. Dann durfte sie antreten.
Die EBU muss ihre Regeln transparenter machen
Es soll hier nicht darum gehen, ob die Teilnahme Israels am ESC richtig war. Was aber wichtig gewesen wäre: transparent darüber zu diskutieren und zu erklären, wie und durch welche Expert*innenstimmen die Teilnahme gerechtfertigt wurde. Wir merken alle, dass die Welt immer komplizierter wird und manche gesellschaftlichen und politischen Fragen nicht einfach zu beantworten sind. Sie aber gar nicht zu beantworten, wäre falsch. Stattdessen sollten die Werkzeuge, mit denen wir Konflikten begegnen, sensibler werden. Wenn die EBU permanent auf ihr Unpolitischsein verweist, bei gleichzeitig eindeutig politischem Handeln, entzieht sie sich der Verantwortung, die mit ihrer Wirkmacht einhergeht. Die EBU muss ihre Regeln aktualisieren und transparenter machen.
Demokratie, Freiheit und Toleranz müssen mehr denn je geschützt werden. Dazu kann der ESC beitragen. Und das heißt manchmal auch, mutig zu sein, klar Stellung zu beziehen und Teilnehmerländer auszuschließen.
Nein! Gerade Künstler*innen aus autoritär regierten Ländern können mit progressiven Auftritten den Diskurs anregen
sagt Steven Meyer
Der ESC steht schon immer für Vielfalt. Das gilt nicht nur für die Musikstile und Künstler*innen, sondern auch für die Staatsformen und Regierungen, die diese indirekt vertreten. Spanien und Portugal nahmen teil, als beide Länder noch mitten in einer Diktatur steckten. Russland und Belarus waren schon vor ihrem Ausschluss keine lupenreinen Demokratien. Und Aserbaidschan ist mit dabei, obwohl es autoritär regiert wird.
Doch wo sollte man die Grenze ziehen? Die European Broadcasting Union (EBU), die das Event organisiert, behauptet schließlich, der Grand Prix sei unpolitisch. Außerdem vertreten die Musiker*innen nicht die Machthaber*innen und Systeme des Landes, sondern den nationalen Rundfunk. Deshalb finde ich: Der Verbund sollte niemanden ausschließen und hätte erst gar nicht damit anfangen dürfen.
Ich liebe den ESC. Es mag zwar naiv klingen, aber in der Woche des Musikwettbewerbs fühle ich mich so europäisch wie nie. Wann schauen sonst schon mal über 160 Millionen Menschen dasselbe Musikevent und feiern die Diversität so vieler Länder? Der ESC ist für mich wie Olympia und die Fußball-WM vereint, nur positiver – ohne Hooligans, Rassismus oder Tote beim Stadionbau.
Kritiker*innen argumentieren, man sollte autoritäre Länder ausschließen, weil diese das Event nutzen würden, um ihr Land international besser darzustellen. Dabei kann die Teilnahme oder der Gewinn auch dazu führen, dass sich internationale Medien kritisch mit den teilnehmenden Ländern beschäftigen.
Der ESC bietet viele Möglichkeiten, Diskussionen zu provozieren und politische Zeichen zu setzen
Außerdem ist es auch nicht immer so einseitig – das bewies die feministische und LGBT-freundliche Sängerin Manizha, die 2021 für Russland teilnahm. Der Sängerin schlug dort viel Hass entgegen, konservative Politiker*innen wollten sogar ihre Teilnahme verhindern.
Die Veranstaltung bietet zudem mit Pressekonferenzen, Livesendungen und Vorberichterstattungen viele Möglichkeiten, Diskussionen zu provozieren und politische Zeichen zu setzen. So hielt die isländische Band Hatari in Tel Aviv 2019 eine palästinensische Flagge in die Kamera, und die ukrainische Dragqueen Verka Serduchka soll 2007 in Helsinki statt der absurden Songzeile „Lasha Tumbai“ („Schlagsahne“ auf Mongolisch) die ganze Zeit „Russia, goodbye“ gesungen haben.
Der Boykott von Kultur einzelner Länder wird uns nicht weiterbringen. Künstler*innen stoßen immerhin häufig Diskurse an
Durch den Ausschluss Russlands wird also auch progressiven Kräften, die die Teilnahme einer feministischen Sängerin ermöglichten, eine Abfuhr erteilt. Ich verstehe zwar, dass man sich solidarisch mit der Ukraine zeigen möchte. Ich bin mir dennoch sicher: Der Boykott von Kultur einzelner Länder wird uns nicht weiterbringen. Künstler*innen stoßen immerhin häufig Diskurse an. Musik kann also einen Beitrag dazu leisten, dass sich Dinge ändern und man Differenzen überwindet.
Die EBU schuf mit dem Ausschluss Russlands 2022 einen Präzedenzfall, der Fragen nach sich zieht. Warum wird Israel nicht ausgeschlossen, obwohl es laut einer Expertenkommission der UN schwere Menschenrechtsverletzungen in Gaza begeht? Wo werden die Grenzen gezogen, was die Ausschlüsse angeht? Durch die politische Entscheidung hat sich die EBU angreifbar gemacht. Den Vorwurf der Doppelmoral finde ich berechtigt.
Der ESC ist letztendlich ein Spiegel unserer Gegenwart. Und diese war schon immer widersprüchlich und komplex. Klar, es scheint schwer vorstellbar, den ESC in einem Land zu feiern, das autoritär regiert wird oder aktiv einen Krieg führt. Wir sollten dennoch auf Dialog setzen und im Gespräch mit der Zivilbevölkerung bleiben. Deshalb werde ich den diesjährigen ESC schauen – auch wenn ich mit vielen Entscheidungen der EBU nicht zufrieden bin.
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Illustration: Renke Brandt