Thorgen Flor war überrascht, als es im Sommer 2015 Hunderttausenden Menschen gelang, nach und durch Europa zu flüchten. Noch mehr überrascht, „ja fast schon überwältigt“ hatten den Bremer Politikwissenschaftsstudenten aber die Reaktionen vieler Menschen in Deutschland. Die Bilder vom Münchener Hauptbahnhof zeigten für ihn das, was später „Willkommenskultur“ genannt wurde: eine ungewöhnliche Koalition aus Studierenden und RentnerInnen, linken AntirassistInnen und PastorInnen, die Geflüchtete nicht nur spätnachts an Bahnhöfen begrüßten, sondern auch mit Kleiderspenden oder – wie Flor – beim Deutschlernen unterstützten.
In den letzten Jahren wurde die Migrationspolitik Deutschlands restriktiver. Der Ton hat sich verschärft.
Auch drei Jahre nach dem „Flüchtlingssommer 2015“ engagieren sich viele Freiwillige für Geflüchtete, aktuell setzt sich jede/r fünfte Deutsche aktiv für sie ein.
Nicht überall wird das positiv aufgenommen.
55 Prozent der Bevölkerung haben Geflüchtete unterstützt
Angela Merkels Satz „Wir schaffen das“ jährt sich nun zum dritten Mal. Die Migrationspolitik der Bundesregierung ist in den Jahren Schritt für Schritt restriktiver geworden, immer wieder werden Forderungen nach schnelleren Abschiebungen und geschlossenen Grenzen laut – und zwar längst nicht nur aus den Reihen der AfD, die mittlerweile im Bundestag und jedem Landesparlament vertreten ist. Die öffentliche Meinung ist gespalten.
Einer Untersuchung des Instituts für Demoskopie Allensbach zufolge setzen sich aber aktuell immer noch 19 Prozent der deutschen Bevölkerung für Geflüchtete ein. Seit 2015 haben sogar 55 Prozent der Bevölkerung Flüchtlinge auf unterschiedliche Weise unterstützt.
Wer sind diese Menschen, und was motiviert sie? Und vor allem: Wie wirken sich die verhärtete politische Situation und die öffentliche Debatte auf ihr Engagement aus?
Die Helfer kommen dabei aus allen Schichten
„Die Protagonisten der Willkommenskultur haben als breite Bürgerbewegung agiert – das war besonders“, sagt Werner Schiffauer, Mitglied im Rat für Migration, einem bundesweiten Zusammenschluss von MigrationsforscherInnen. Die Engagierten hatten Schiffauer zufolge teils sehr unterschiedliche Beweggründe: So trafen Ehrenamtliche, die erstmals und vor allem karitativ tätig waren, auf erfahrene Flüchtlingsunterstützer. In der Allensbach-Studie heißt es entsprechend: „Der Kreis der Engagierten spiegelt im Großen und Ganzen die Gesellschaft wider“.
Inzwischen gibt es in Deutschland 15.000 Unterstützungsprojekte, schätzt Schiffauer. Neuartig sei dabei auch die persönliche Nähe zwischen den Helfenden und den Geflüchteten. Darin liege das Potenzial, Vorurteile ab- und Solidarität aufzubauen. Geflüchtete bekamen plötzlich ein Gesicht und wurden weniger stark als anonyme Masse wahrgenommen.
„Manche Helfer hatten bestimmt auch einen überpositiven Blick auf Geflüchtete, der sich gar nicht am konkreten Individuum orientierte“, sagt Flor. Aber von einer verklärenden Haltung, wie sie den Engagierten immer wieder vorgeworfen wurde, sei die Szene, wie er sie in Bremen kennengelernt hat, weit entfernt. Das Wissen um die individuellen Lebensgeschichten hatte Flor verdeutlicht, „wie absurd“ manche bürokratischen Kategorisierungen seien. Heute sehe er etwa das Konzept des „sicheren Herkunftsstaates“ wesentlich kritischer.
Viele Engagierte sind frustriert, weil sich die Bleibechancen für Flüchtlinge verschlechtert haben
Das durch persönliche Erzählungen vertiefte Verständnis für Fluchtursachen – wie etwa der Krieg in Syrien oder die Situation in Afghanistan – bezeichnet Miriam Edding als „worlding“. Die Hamburgerin ist bei Watch the Med aktiv, einem internationalen Freiwilligen-Projekt, das sich für die Seenotrettung von Flüchtlingen im Mittelmeer einsetzt.
Bei vielen Engagierten beobachtet Edding eine „zunehmende Frustration“. Dies liege vor allem an der politischen Polarisierung und der verschärften Situation für die Geflüchteten, deren Bleibeperspektiven und Chancen auf Familiennachzug sich im Vergleich mit 2015/2016 häufig verschlechtert haben. Gleichzeitig gebe es aber auch eine Professionalisierung: Die Engagierten profitieren von den jahrelangen Erfahrungen in Öffentlichkeitsarbeit, Projektfinanzierung und in der Zusammenarbeit mit Geflüchteten. Dadurch könnten sie auf neue Herausforderungen häufig schneller und flexibler reagieren als die „oft überbürokratisierten staatlichen Behörden“.
Bei nicht wenigen Engagierten fällt Schiffauer eine „Jetzt erst recht“-Haltung auf – vor allem dort, wo die migrationspolitischen Verschärfungen besonders groß sind, wie etwa in Bayern. „Viele fragen sich: Was ist aus dem Land von 2015 geworden, aus dem zivilgesellschaftlichen Aufbruch?“ Aus den politischen Entwicklungen erklärt sich der Kulturwissenschaftler auch, weshalb kaum noch neue Freiwillige dazukommen: Mancherorts sei die Unterstützung von Geflüchteten mit einem großen Stigma belegt. Gleichzeitig seien aus dieser gesellschaftlichen Abwertung aber auch Gegenbewegungen entstanden, wie etwas das bundesweite Solidarity-City-Netzwerk.
Das Engagement für Geflüchtete begann nicht erst 2015, betont Migrationsforscher Serhat Karakayali von der Humboldt-Universität zu Berlin: Bereits Jahre zuvor ließ sich ein deutlicher Anstieg von Ehrenamtlichen beobachten. Zudem habe es, etwa mit der „Karawane für die Rechte der Flüchtlinge und MigrantInnen“, schon seit Jahrzehnten bedeutende Unterstützergruppen gegeben. Im Gegensatz zur „Willkommenskultur“ sei dieses Engagement jedoch dezidierter Teil einer linken antirassistischen Bewegung gegen globale soziale Ungleichheit gewesen, so Karakayali.
Die Freiwilligen übernehmen Verantwortungen, die ihrer Meinung nach der Staat tragen sollte
Indem die Ehrenamtlichen heute oft als eine Art „Anwälte“ der Geflüchteten agieren und bei Behörden Leistungen erkämpfen, sind sie häufig politischer als angenommen, sagt Karakayali. Die Engagierten errichten zum Beispiel Versorgungsstrukturen, für die sie eigentlich den Staat in der Verantwortung sehen. Das heutige Engagement gelte vielen als Zeichen gegen den Rechtspopulismus.
Integration wird dabei, so Karakayali, nicht als „einseitige Bringschuld der Migranten“ verstanden, sondern als ein „Aufeinanderzubewegen“. Am Ende werde nämlich im besten Fall auch die Lebenswelt der Engagierten bereichert – so wie bei Thorgen Flor aus Bremen, zu dessen Freundeskreis heute auch Geflüchtete gehören.
Titelbild: Maria Vittoria Trovato/OSTKREUZ