Am Ostersonntag gab es in der pakistanischen Stadt Lahore einen Anschlag der extremistischen Gruppe Jamaat ul-Ahrar, einer Splittergruppe der islamistischen Taliban-Miliz, bei dem 72 Menschen ums Leben kamen. Der Terror galt der christlichen Minderheit des Landes, traf aber auch sehr viele Muslime. Wir haben mit dem pakistanischen Journalisten und Taliban-Experten Ahmed Rashid über die Ursachen und Folgen des Terrors gesprochen – und wollten wissen, ob er einen Zusammenhang mit dem Terror von Daesh in Europa sieht.

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Inmitten von feiernden Familien in der Nähe eines Spielplatzes hatte sich ein Taliban-Kämpfer am Ostersonntag in einem Park in Lahore in die Luft gesprengt. Unter den 72 Getöteten waren 35 Kinder (Foto: Yannis Kontos/Polaris/laif)

Inmitten von feiernden Familien in der Nähe eines Spielplatzes hatte sich ein Taliban-Kämpfer am Ostersonntag in einem Park in Lahore in die Luft gesprengt. Unter den 72 Getöteten waren 35 Kinder

(Foto: Yannis Kontos/Polaris/laif)

Fluter: Herr Rashid, Sie leben in Lahore. Wie ist die Stimmung in der Stadt nach dem Anschlag an Ostern?

Ahmed Rashid: Es gab viele Anschläge in Lahore, und hier leben zwölf Millionen Menschen, also was in einem Teil der Stadt passiert, wirkt sich nicht unbedingt auf die anderen aus. Aber trotzdem war es ein Schock, vor allem weil es in dem Park passiert ist, der als eine Art Zentrum für Frauen und Kinder gilt. Dazu kommen die politischen Auswirkungen und die Enthüllung der „Panama Papers“, in die auch viele pakistanische Politiker verwickelt sind. Es kam also eins zum anderen.

Ziel des Anschlags waren Christen. Wie wirkt sich das auf das Leben der religiösen Minderheiten in Pakistan aus?

Die Wirkung kann man gar nicht überschätzen. Zumal die Terroristen bekannt gegeben haben, dass sie von nun an alle Christen bekämpfen werden. Das ist natürlich extrem beunruhigend, besonders für die Christen, aber eigentlich für alle Bevölkerungsgruppen. Seit 1947 haben wir Pakistan mit all den Minderheiten geteilt, und die Gründungsväter des Landes haben das immer hervorgehoben. Aber leider scheint es so, dass wir die Sicherheit der Minderheiten nicht mehr gewährleisten können.

„Die Wirkung kann man gar nicht überschätzen. Zumal die Terroristen bekannt gegeben haben, dass sie von nun an alle Christen bekämpfen werden.“

Sie haben von politischen Folgen gesprochen. Welche sind das?

Noch in der Nacht des Anschlags zog die Armee ins Pandschab-Gebiet ein und nahm mutmaßliche Terroristen fest, die offenbar auf einer Liste standen. Eigentlich gab es eine Abmachung zwischen der Armee und Premierminister Nawaz Sharif, dass die Armee sich aus dem Pandschab-Gebiet, dem Herzen der Machtbasis Sharifs, heraushalten würde. Dafür erhielt die Armee die Kontrolle über die Außen- und Nuklearpolitik des Landes und war für den Antiterrorkampf in Karatschi, dem Süden und entlang der Grenze zu Afghanistan zuständig. Jetzt hat die Armee diese Vereinbarung gebrochen und so einen Machtkampf ausgelöst. Dabei wissen die Menschen, dass beide Fraktionen Verbindungen zu extremistischen Gruppen hatten und womöglich noch haben, besonders in der umstrittenen Kaschmir-Region im Dauerkonflikt mit Indien.

Auch zu der Jamaat-ul-Ahrar-Gruppe, die sich zu dem Anschlag bekannt hat? In Europa ist diese Gruppe unbekannt.

Es ist eine relativ neue Splittergruppe der pakistanischen Taliban. Wir wissen nicht viel über sie, nur dass sie nicht sehr beliebt ist bei den Menschen und auch keine Machtzentren hat wie die Taliban. Sie hat sich dem Umsturz des Systems in Pakistan verschrieben, also ist sie für die Regierung und die Armee ein Feind. Zwar hat sie sich von den pakistanischen Taliban losgesagt, hat aber immer noch enge Verbindungen zu der aus Afghanistan, und viele Mitglieder leben auch dort, in der Grenzregion zwischen den Ländern.

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Nach den Hindus bilden die Christen in Pakistan die zweitgrößte religiöse Minderheit (Foto: Yannis Kontos/Polaris/laif)

Nach den Hindus bilden die Christen in Pakistan die zweitgrößte religiöse Minderheit

(Foto: Yannis Kontos/Polaris/laif)

Es ist nicht lange her, da schien es, als hätte die Armee die Taliban und andere Terroristen im Griff. Es gab kaum noch Anschläge. Was ist passiert?

Für die Taliban in Pakistan stimmt das auch immer noch, auf pakistanischem Boden gibt es keine Hochburgen mehr. Doch die meisten sind nach Afghanistan geflüchtet und führen die Attacken jetzt von dort aus. Das Problem ist, dass sowohl die Armee als auch die Regierung die afghanischen Taliban sogar als Freunde des Landes gesehen haben.

Welche Rolle spielt dabei, dass sich beide Länder nicht darauf einigen konnten, wie sie die Taliban bekämpfen sollen?

Eine große. Aus beiden Ländern nutzen Taliban die poröse Grenze, um Attacken im jeweils anderen Land zu planen oder auszuführen. In Pakistan ist das sicherlich ein Versagen der Armee, nicht genug Druck auf die afghanischen Taliban auszuüben, dass die nach Hause zurückkehren. Dieses Versagen wirkt sich auch auf die Friedensverhandlungen zwischen der afghanischen Regierung und den Taliban aus, weil es die Position der Taliban stärkt und ihnen einen immer verfügbaren Rückzugsraum verschafft. Gleichzeitig muss verhindert werden, dass die pakistanischen Kämpfer Zufluchtsorte in Afghanistan finden. Das zu verhindern kann nur geschehen, wenn es einen Friedensprozess zwischen der afghanischen Regierung und den dortigen Taliban gibt, und darauf muss auch Pakistan drängen.

„In der Zersplitterung liegt eine Gefahr, denn bei den Taliban wusste man doch recht gut, woran man ist.“

Da es keine Hochburgen mehr gibt, gründen sich deshalb nun Splitter-Gruppen wie Jamaat-ul-Ahrar?

Sicherlich gab es durch die intensive Bekämpfung der Taliban eine Zersplitterung. Dazu kommen auch interne Streits um Strategie, Einfluss und Geld. In der Zersplitterung liegt natürlich auch eine Gefahr, denn bei den Taliban wusste man doch recht gut, woran man ist. Diese neuen Gruppen kennt man nicht, und deswegen sind sie schwierig zu bekämpfen und zu überwachen.

Haben die Verbindungen zu Daesh?

Soweit wir wissen, nicht, auch wenn es über kurz oder lang passieren könnte, dass sie sich Daesh anschließen. Nun hat Daesh aber eigentlich wenig Unterstützer in Pakistan. Extremistische Gruppen wie die Taliban oder Al Kaida sind hier etabliert und extrem gut vernetzt, schließlich bestehen sie seit 20 oder 30 Jahren. Den Aufstand, den der Nahe Osten gerade erlebt, haben wir in unserer Region schon seit vielen Jahren, in Afghanistan seit 1979. Deshalb glaube ich, dass Daesh hier nur schwer Fuß fassen wird.

Müssen wir diese neuen Gruppierungen in Westeuropa fürchten? Werden sie ihren Terrorismus exportieren?

Darüber kann man nur spekulieren. Die Taliban haben zwar Al-Kaida-Leuten Unterschlupf gegeben, aber nie von sich aus Attacken in anderen Ländern ausgeführt. Bei den neuen Gruppen könnte es nun sein, dass sie sich unter dem Einfluss von Al Kaida und Daesh dem globalen Dschihad anschließen werden. Aber bis jetzt gibt es keine Anzeichen dafür.

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cms-image-000048818.jpg (Foto: Basso Cannarsa/Opale/Leemage)
(Foto: Basso Cannarsa/Opale/Leemage)

Ahmed Rashid ist einer der angesehensten Journalisten Pakistans. Er nimmt regelmäßig auf CNN und BBC World Service zu politischen Konflikten Stellung. Auf Deutsch erschien zuletzt sein Buch „Am Abgrund. Pakistan, Afghanistan und der Westen“. 

Pakistan und der Terror

Pakistans Problem mit Extremismus und Terrorismus liegt vor allem in der Geschichte des Landes begründet. Nach der Abspaltung von Indien 1947 gab sich der junge Staat als Hüter des Islam, auch um sich ideologisch vom hinduistischen Indien abzugrenzen. Beide Staaten stehen sich seither feindlich gegenüber. In Pakistan wird der Islam in der Schule gelehrt und den Soldaten in der Armee eingeimpft, sie müssten ihre Religion gegen Indien verteidigen. Im Konflikt mit Indien um die umstrittene Kaschmir-Region als auch in außenpolitischen Auseinandersetzungen mit Afghanistan an der westlichen Grenze setzte der pakistanische Geheimdienst ISI lange Zeit auf die Unterstützung extremistischer Gruppen – und tut dies nach Ansicht vieler Experten noch heute. 
Viele der Extremisten sind Nachfolger der islamistischen Mudschahedin, die nach dem Einmarsch der Sowjettruppen in Afghanistan 1979 auch von den USA und Saudi-Arabien bewaffnet wurden. Seit 2001 gab es in Pakistan mehr als 60.000 Opfer von Terrorangriffen.  

Minderheiten wie Christen oder die muslimische Ahmadiyya-Gemeinde haben es schwer in Pakistan, vor allem wegen des Blasphemiegesetzes, das für die Schmähung des Propheten Mohammed die Todesstrafe vorsieht. In den vergangenen 20 Jahren wurden 62 Menschen Opfer von Selbstjustiz, nachdem sie der Gotteslästerung angeklagt waren. Mehr als die Hälfte gehörte religiösen Minderheiten an, obwohl diese nur vier Prozent der pakistanischen Bevölkerung ausmachen.

Constantin Wißmann arbeitet als freier Journalist in Berlin. Er berichtet für Zeitungen und Magazine regelmäßig aus Krisengebieten und über den islamisch motiviertem Terrorismus, insbesondere in Afghanistan und dem Irak.